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Der Schweiz droht ein Attraktivitätsverlust

Boomtown Zug. Keystone

Die Attraktivität der Schweiz für multinationale Konzerne war Jahrzehnte lang eine bedeutende Quelle wirtschaftlichen Erfolges. Doch Gegenwind aus dem In- und Ausland gegenüber dem grosszügigen Willkommen für Firmen-Hauptquartiere droht nun, diese "Industrie" aus der Bahn zu werfen.

«Konkurrenzstandorte gehen für die Ansiedelung von Unternehmen in ihrem Raum sehr aggressiv vor, mit günstigen Steuersystemen, Willkommens-Geschenken und subventionierten Lokalitäten», erklärt Rudolf Wehrli, der Präsident des Schweizer Verbands der Unternehmen (economiesuisse), gegenüber swissinfo.ch. «Unsere hervorragenden Rahmenbedingungen könnten im Vergleich mit anderen Vorteilen, die Investoren angeboten werden, dahinschmelzen.»

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Irland zieht vermehrt ausländische Firmen an

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die strahlend weisse und gläserne Fassade der «Silicon Docks» in Irland, die sich den Gewässern der Bucht von Dublin spiegelt, scheint wie ein Leuchtfeuer von Wohlstand und Fortschritt. Zu den multinationalen Konzernen, die ihren Sitz am Unternehmensstandort EastPark haben, gehört der Internetriese Yahoo mit seinen Hauptquartieren für Europa, den Nahen Osten und Afrika (EMEA). Irland…

Mehr Irland zieht vermehrt ausländische Firmen an

economiesuisse ist alarmiert

Mit Abstand das grösste Hindernis für eine andauernde Attraktivität der Schweiz für ausländische Firmen ist die von der Europäischen Union erzwungene bevorstehende Unternehmenssteuer-Reform. Die EU verlangt, dass die Kantone «diskriminierende» Steuerprivilegien auf im Ausland erzielten Gewinnen ausländischer Firmen abschaffen und dieselbe Rate anwenden, die bei den im Inland erzielten Profiten zum Zuge kommt.

Durch das langsamer gewordene Tempo bei der Ansiedlung von multinationalen Konzernen in der Schweiz alarmiert, entschloss sich economiesuisse, das Thema bei seiner Jahrestagung im August frontal anzupacken. Das Treffen in Lausanne wurde zu einem ernüchternden Realitätscheck.

Mehr als 6500 ausländische Unternehmen sind in der Schweiz angesiedelt, oft handelt es sich um regionale Hauptquartiere, Forschungs- und Entwicklungszentren.

Nach Angaben von economiesuisse beschäftigen die Multis in der Schweiz 430’000 Personen (11% aller Stellen) und trugen zwei Drittel zum Wirtschaftswachstum des vergangen Jahrzehnts bei. Die Summe ihrer akkumulierten Investitionen im Land belaufen sich auf 650 Mrd. Franken.

Die Schweizerisch-Amerikanische Handelskammer berechnete, dass im Jahr 2010 rund 43% der Wirtschaftsleistung im Kanton Genf auf multinationale Konzerne entfielen, im Kanton Waadt waren es 41%.

In beiden Kantonen generierten Multis in den Jahren zwischen 2000 und 2010 zwei Drittel der neuen Stellen.

Der Schweizerische Städteverband warnte im August, dass Schweizer Städte und Gemeinden pro Jahr 1,5 Mrd. Franken Steuereinnahmen entgehen könnten, wenn im Zug der Unternehmenssteuerreform die Steuererleichterungen für ausländische Firmen abgeschafft und die in Betracht gezogene Senkung der Gewinnsteuersätze durchgesetzt würde.

Streit ohne Ende

Zuoberst auf der Sorgenliste stehen die anstehenden Reformen in den kantonalen Unternehmenssteuerregimen. Nach jahrelangem Widerstand hat die Schweiz im vergangenen Mai der EU ihre Bereitschaft signalisiert, die Unternehmenssteuern auf kantonaler und auf Bundesebene anzupassen. Gleichzeitig stellte sie Gegenforderungen. So will die Schweiz, dass die EU während der Umsetzungsphase auf Retorsionsmassnahmen verzichtet.

Damit ist die EU nicht einverstanden, denn bis die Schweizer Kantone die Reformen effektiv umsetzen werden, können wegen des dazu notwendigen gesetzgeberischen Prozesses Jahre vergehen.

«Ein günstiges Steuersystem ist eine der tragenden Säulen unserer Wettbewerbsfähigkeit. Es steht unter Beschuss und das könnte sehr rasch sehr ernsthaft werden», sagte Wehrli gegenüber swissinfo.ch.

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Unsicherheit ist negativ

Die Verzögerung bei der Ausarbeitung konkreter Vorschläge für die Reform der derzeit geltenden Steuersysteme in der Schweiz ist für ausländische Firmen, die langjährige Gewissheit haben wollen, wenig attraktiv. Wehrli befürchtet, dass konkurrierende Länder die derzeitige Unsicherheit über das Ausmass der anstehenden Reformen ausnutzen könnten, um multinationale Konzerne und deren Steuerabgaben aus der Schweiz abzuwerben.

«Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ist nicht einfach eine gegebene Sache. Und hat man sie mal aufgebaut, wird sie nicht einfach andauern, wenn man nichts weiter dafür tut», fügte er hinzu und wies auf steigende Löhne und Mieten für Bürolokalitäten im Vergleich mit anderen Ländern hin.

Eine jährliche Untersuchung von Ernst & Young über ausländische Firmen in der Schweiz ergab, dass die Zahl von Neueinsteigern oder bedeutenden Reinvestitionen von 124 Fällen im Jahr 2007 auf noch 61 im vergangenen Jahr sanken.

Die Zahl der Ansiedelung ausländischer Unternehmen schrumpfte 2012 gegenüber dem Vorjahr um rund 20%, gemessen an den Arbeitsplätzen lag der Rückgang bei mehr als 40%, wie die NZZ im September unter Berufung auf die Volkswirtschaftsdirektorenkonferenz berichtete.

Auch die Zahl der Auslandsbanken in der Schweiz (ausländisch beherrschte Banken) sank: Anfang 2012 waren noch 145 in der Schweiz tätig, Ende Mai 2013 noch 129.

Nicht mehr so willkommen

Viele der Anziehungspunkte der Schweiz als Unternehmensstandort sind weiterhin intakt: Hoch entwickeltes Transportwesen, Bildungs- und Forschungsinstitutionen, hoch qualifizierte, mehrsprachige Arbeitskräfte, die Lage mitten in Europa sowie eine der robustesten Volkswirtschaften der Welt mit einem hoch entwickelten Finanzsystem im Rücken.

Doch der Willkommensteppich hat heute Flecken, in der öffentlichen Meinung sind multinationalen Konzernen gegenüber vermehrt negative Töne zu hören.

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Schwarzer Peter

Konfrontiert mit verstopften Autobahnen, überfüllten Zügen und steigenden Immobilienpreisen scheinen immer mehr Leute bereit, den Schwarzen Peter den multinationalen Konzernen und deren internationalen Arbeitskräften zuzuschieben.

Der konkreteste Beweis für die Verstimmung gegenüber dem Kapitalismus aus dem Ausland findet sich im politischen Barometer der öffentlichen Meinung der Schweiz – bei Initiativen und Referenden.

Früher in diesem Jahr nahm das Stimmvolk die «Minder»-Initiative an, um die Saläre von Topmanagern in Aktiengesellschaften einzudämmen. Bei weiteren Initiativen, die in den nächsten zwei Jahren an die Urne kommen, geht es unter anderem um einen gesetzlich verankerten Mindestlohn, um Verschärfungen bei den Erbschaftssteuern sowie um die Beschränkung der Anzahl von Ausländern und Ausländerinnen, die in der Schweiz leben und arbeiten dürfen.

Ampel auf Gelb

Schelte für Firmen und vermögende Privatpersonen aus dem Ausland scheint auch ein Elixier zu sein gegen den anhaltenden Kater aus der Finanzkrise. Einige Kantone haben Steuerprivilegien für Reiche, die sich in der Schweiz niederlassen, eingedämmt und die Landesregierung gezwungen, der Praxis im ganzen Land einen Riegel zu schieben.

«Wo ich auch hingehe, werde ich von multinationalen Konzernen gefragt, ob die Schweiz noch ein unternehmensfreundliches Land sei, denn im Moment haben sie nicht das Gefühl, dass man sie mag», erklärte Martin Naville, Direktor der Schweizerisch-Amerikanischen Handelskammer, gegenüber swissinfo.ch. 

«Wir sehen noch keinen grossen Exodus von ausländischen Firmen, aber die Risiken, vor denen die Schweiz in den nächsten zwei, drei Jahren steht, sind enorm. Wir sind mit vielen wichtigen Fragen konfrontiert, und diese müssen ernst genommen werden», unterstrich Naville.

«Für die multinationalen Konzerne stehen die Lichter noch nicht ganz auf Rot, blinken aber sicher schon in Gelb.»

(Übersetzung aus dem Englischen: Rita Emch)

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