Die bittere Seite des Schokoladen-Geschäfts
Kinderarbeit ist auf den Kakaoplantagen in Westafrika noch immer stark verbreitet. Zu diesem Schluss kommt eine Studie aus den USA. Wie konnte eine 100-Milliarden-Dollar-Industrie während der vergangenen Jahre so wenige Fortschritte erzielen?
Das Fazit ist ernüchternd: Noch immer schuften unzählige Kinder auf Kakaoplantagen in Westafrika. Die Zahl hat laut einer StudieExterner Link des Sozialforschungszentrums Norc der Universität von Chicago sogar zugenommen: Der Anteil der Kinder, welche in den Anbaugebieten der Elfenbeinküste und Ghanas Kinderarbeit verrichten, ist zwischen 2008 und 2019 um 14 Prozent gestiegen. Demnach arbeiten dort rund 1,5 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen.
Die internationalen Medien nahmen nach Veröffentlichung der Studie Ende Oktober kein Blatt vor den Mund. Die Washington PostExterner Link nannte es «ein bemerkenswertes Versäumnis der Schokoladehersteller, ihr langjähriges Versprechen zu halten, diese Praxis aus ihren Kakaolieferketten zu entfernen».
Doch die Ergebnisse der Studie, welche vor fünf Jahren vom US-Arbeitsministerium in Auftrag gegeben wurde, überraschen nur wenige in der Branche. Die Kakaohändler und -verarbeiter – viele davon mit Sitz in der Schweiz – investierten während den letzten zwei Jahrzehnten Millionen in Projekte, Überwachungs- und Zertifizierungssysteme in der Region. Eine echte Wirkung blieb dennoch aus.
2019 identifizierte der Nahrungsmittelriese Nestlé rund 18 000 Kinderarbeiter in seiner Lieferkette, nachdem er 224 Millionen FrankenExterner Link in einen Plan zur nachhaltigeren Kakaoherstellung gesteckt hatte.
Während die Konzerne immer wieder erklären, sie hätten Lehren aus der Vergangenheit gezogen, argumentieren Aktivisten, dass die Studie der jüngste Beweis dafür sei, dass die grossen Kakaofirmen sich nicht selbst regulieren könnten. Verbindliche Massnahmen, zum Beispiel solche wie die Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz, seien notwendig, um Firmen in die Pflicht zu nehmen.
Ein komplexes Problem
Viele Versuche, Kinderarbeit aus der Welt zu schaffen, waren von Naivität geprägt. Ein Beispiel ist das Harkin-Engel-Protokoll: Die USA, Ghana und die Elfenbeinküste beschlossen 2001 gemeinsam mit Industriepartnern, die schlimmsten Formen der Kinderarbeit auszumerzen.
Die Ziele des Abkommens «wurden festgelegt, ohne die Komplexität und das Ausmass des Problems vollständig zu verstehen», kritisierte die Weltkakaostiftung in einer Erklärung. «Die meisten Unternehmen wussten nicht, woher der Grossteil des Kakaos stammte, geschweige denn, welche konkurrierenden Kräfte bei dessen Produktion am Werk waren.»
Als in den späten 90er-Jahren Berichte über Kinderarbeit in Westafrika aufkamen, versuchten die Konzerne zunächst, das Problem mit guter Rechnungsprüfung und strikten Strafen zu lösen, was jedoch wenig Wirkung zeigte.
«Vor allem zeigte sich, dass der Ansatz, Bauern zu bestrafen, wenn sie ihre Kinder im Familienbetrieb einsetzen, kaum etwas verändert», hielt die Internationale Kakao-Initiative (ICI) in einem Dokument fest. Die ICI ist eine in Genf ansässige Organisation, welche die Bekämpfung von Kinderarbeit in den Kakaoplantagen vorantreibt. Das Problem verschob sich in den Untergrund und konnte so nicht mehr wirksam bekämpft werden.
Laut Definition der Internationalen Arbeitsorganisation ILO bezeichnet Kinderarbeit jegliche Arbeit von Minderjährigen, die negative Folgen für ihre geistige, soziale und gesundheitliche Entwicklung hat und die die Grundrechte der Kinder auf Bildung, Gesundheit, Schutz und Beteiligung verletzt. Der Bericht der Forschungsstelle Norc stützt sich auf die ILO-Definition und umschreibt mit dem Begriff Kinder, die die maximal zulässige Arbeitszeit in jeder wirtschaftlichen Aktivität überschreiten und/oder bestimmten Gefahren wie Pestiziden ausgesetzt sind.
2014 kam die Branche erneut zusammen. Doch diesmal schauten die Akteure stärker auf die eigentliche Ursache von Kinderarbeit: Armut.
Die erneuten Bestrebungen geschahen in einer Zeit, als die Industrie vor einer Kakaoknappheit warnte, da die Schokolade-Nachfrage in Asien stark anstieg. In Westafrika, wo etwa 70 Prozent des weltweiten Kakaos angebaut wird, wurde stark investiert.
Dem Norc-Bericht zufolge wuchs die Produktion in dieser Region innerhalb eines Jahrzehnts um 62 Prozent, der Anteil der Haushalte, die Kakao anbauten, stieg von 55 auf 84 Prozent. Die Produktivität veränderte sich jedoch kaum.
Zwar hatte das Wachstum einige positive Auswirkungen, doch insgesamt verschlimmerte sich dadurch auch die Kinderarbeit. «Es gab nun viel mehr Haushalte, die Kakao anbauten, und leider bedeutete dies, dass mehr Kinder dem Risiko ausgesetzt waren, als Arbeitskräfte eingespannt zu werden», stellte die ICI fest.
Um mit der steigenden Nachfrage Schritt zu halten, setzten die Bauern auch mehr Pestizide und Düngemittel ein. Der Norc-Bericht kommt zum Schluss, dass von den 1,56 Millionen Kindern, die Kinderarbeit leisten, 1,48 Millionen die gefährlichsten und gesundheitsschädlichsten Arbeiten verrichteten: Hantieren mit Macheten und Sprühen von Chemikalien.
Emanuele Biraghi, Spezialist für Partnerschaften bei Unicef in der Elfenbeinküste, sagt, dass die Zunahme der Pestizidbelastung besonders besorgniserregend sei: «Pestizide sind für die körperliche und kognitive Entwicklung von Kindern äusserst schädlich. Ihre Auswirkungen werden aber erst nach Jahren sichtbar.»
Volatile Märkte
Das Wachstum hatte auch negative Folgen für die Einkommen der Landwirte, die den stark schwankenden Weltmarktpreisen ausgeliefert sind.
Die Kakaobauern, von denen die meisten weniger als 10 Hektar Land bearbeiten, erhalten den sogenannten «farm gate price», einen Kaufpreis «ab Hof», der von den nationalen Kakaobehörden festgelegt wird und deutlich unter dem globalen Marktpreis liegt.
«Viele glauben, dass Bauern doppelt so glücklich, doppelt so gesund und doppelt so gebildet sind, wenn sie nur doppelt so viel produzieren», sagt Michiel Hendriksz, ein ehemaliger Kakaohändler, der die Farmstrong Foundation gründete, welche Programme für nachhaltige Landwirtschaft in der Elfenbeinküste und anderswo betreibt.
«Das hat Regierungen und Unternehmen dazu veranlasst, viel Geld in die Unterstützung der Bauern zu pumpen, damit sie mehr Kakao produzieren können. Aber wenn die Nachfrage nicht Schritt hält, schadet das dem Marktpreis», sagt Hendriksz. «Nach einer Rekordernte in den Jahren 2016 und 2017 zum Beispiel fiel der Kakaopreis um rund 30 Prozent, wodurch viele Bauern, die bereits weniger als 2 Dollar pro Tag verdienten, weiter in die Armut getrieben wurden.»
Branchenbeobachter fordern denn auch, dass die Kakaofirmen den Bauern einen gerechteren Preis zahlen. Nach Schätzungen erhalten diese im Schnitt weniger als sieben Prozent des Gesamtpreises eines Schokoladenriegels.
Im vergangenen Jahr führten die Regierungen von Ghana und der Elfenbeinküste eine Prämie von 400 Dollar pro Tonne Kakao ein, welche den Bauern angeblich eine gewisse Einkommensstabilität bieten soll. Es ist aber noch nicht klar, inwiefern das positive Auswirkungen hat.
Obwohl sich die Industriepartner darüber einig sind, dass die Preise, welche die Bauern erhalten, steigen müssen, wissen sie nicht, wie das zu erreichen ist. Einige Experten warnen auch davor, dass künstliche Massnahmen zur Preiserhöhung die Kakaobauern dazu ermutigen könnten, noch mehr zu wachsen, wodurch die globalen Preise in den Keller stürzen könnten.
Druck auf Bauern steigt
Hendriksz, der viel Zeit in der Elfenbeinküste verbringt, sagt, die Erhöhung des Kaufpreises «ab Hof» bedeute nicht, dass die Bauern mehr Waren für den täglichen Bedarf kaufen könnten.
«Die nationale Landwirtschaftspolitik der Elfenbeinküste konzentriert sich voll und ganz auf Exportgüter wie Kautschuk, Cashew, Baumwolle und Kakao. Das hat zur Folge, dass das Land jetzt sogar Grundnahrungsmittel wie Speiseöl, Weizen, Zucker, Fleisch und Fisch importieren muss.»
Die Inflationsraten im Land seien so stark angestiegen, dass die meisten Grundnahrungsmittel und Dienstleistungen für die Bauern sehr teuer geworden seien. «Kleinbauern stehen unter grossem Druck von vielen Seiten», fügt Hendriksz hinzu.
Er betont, dass ein Ende der Kinderarbeit eine Reihe von komplexen Interventionen erfordere, von denen einige nichts mit Kakao oder gar der Landwirtschaft zu tun hätten. Kinderarbeit sei oft die Folge von Problemen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Bildung und Infrastruktur.
«Das ist kein Kakao-Problem. Man muss die wirklichen Probleme und die zugrunde liegenden Ursachen verstehen. Es ist ein sehr komplexes Problem, das tiefe soziale, kulturelle und historische Elemente aufweist. Man kann es nicht isoliert durch eine einzige Massnahme in der Lieferkette lösen», sagt Hendriksz.
Weniger Kakao, mehr Nahrungsmittel
Auch das UN-Kinderhilfswerk Unicef will erreichen, dass die Industrie gesamtheitlich aktiver wird und sich mit Themen wie Gesundheit, Bildung, Zugang zu Wasser, Unterernährung und Geburtenregistrierung befasst. Das alles können Faktoren sein, die Kinder von der Schule fernhalten und Familien von Kakaobauern in einem Kreislauf der Armut gefangen halten.
Investitionen in solche Bereiche könnten eine wichtige Strategie sein, um Kinderarbeit zu verhindern und gleichzeitig das Humankapital zu verbessern, sagt Unicef-Spezialist Biraghi.
Es scheint, als würde die Industrie mitmachen. Alle grossen Kakaohändler und Schokoladenhersteller haben Pläne angekündigt, die Zertifizierungen oder Projekte zum Bau von Schulen oder Hilfsprogramme für Bauern vorsehen.
Nicko Debenham, Leiter des Bereichs Nachhaltigkeit beim grossen Kakaoverarbeiter Barry Callebaut sagte gegenüber der Financial TimesExterner Link, dass das Cash-Crop-Modell, also die Produktion nur für den Exportmarkt, ein Rezept für anhaltende Armut sei. Sein radikaler Ratschlag für die Bauern: Die Preise in die Höhe treiben, in dem sie weniger Kakao und mehr Nahrungsmittel anbauen.
Barry Callebaut ist an einem Viertel aller weltweit konsumierten Schokolade- und Kakaoprodukte beteiligt. Vor einigen Jahren startete das in Zürich ansässige Unternehmen die Initiative «Forever Chocolate», die darauf abzielt, eine halbe Million Bauern aus der Armut zu befreien, die Kinderarbeit auszuradieren und zugleich umweltgerechte und nachhaltige Produktion zu fördern.
«Bruchstückhafte Bemühungen»
Der Lebensmittelriese Nestlé wiederum, dem Marken wie KitKat, Smarties und Cailler gehören, hat im Rahmen seines «Cocoa Plan» Themen wie Wasser, sanitäre Einrichtungen und Gleichstellung der Geschlechter zu Prioritäten gemacht.
Nestlé-Manager Yann Wyss, der beim Konzern den Bereich Menschenrechte leitet, sagt gegenüber swissinfo.ch, dass er den Fokus auf die lokalen Gemeinschaften zwar befürworte, er aber einen gesamtheitlicheren Ansatz bevorzuge.
«Es ist ein schlechter Weg, nur in den Gemeinden zu helfen. Die Unternehmen ignorieren, dass sie in ihrer eigenen Lieferkette viel verändern könnten. Sie müssen wissen, was in ihrer Lieferkette falsch läuft, um zu verstehen, was getan werden muss, um die eigentlichen Ursachen zu bekämpfen. Jede Gemeinde, jeder Haushalt und jeder Bauer sind anders, deshalb müssen massgeschneiderte Lösungen gefunden werden», sagt er.
«Nestlé baut Schulen in Dörfern, aus denen wir Güter beziehen. Denn vielerorts haben die Kinder keinen Zugang zu Bildung. Das liegt entweder an zu wenig Schulen oder daran, dass die Schulen zu weit entfernt sind.»
Ob Schulen eine echte Veränderung bewirken können, ist allerdings fraglich. Es hängt davon ab, wie viele gebaut werden. In der Elfenbeinküste allein leben schätzungsweise drei Millionen Kinder in Gemeinden, in denen Kakao angebaut wird.
Die Internationale Kakao-Initiative ICI stellte fest, dass eine schlechte Koordination zu «bruchstückhaften, ineffizienten und manchmal inkohärenten Bemühungen» geführt habe, welche sichtbare Ergebnisse verunmöglicht hätten.
Ein Schweizer Plan
Auch die Schweiz engagiert sich. Der Bundesrat bemüht sich um bessere Zusammenarbeit auf nationaler Ebene, indem sie im Rahmen der Schweizer Plattform für Nachhaltigen KakaoExterner Link 7,6 Millionen Franken in Partnerschaften mit der Schweizer Kakaoindustrie und NGOs investiert.
Obwohl die Schweizer Kakaoimporte nur 2 Prozent des Weltmarktes ausmachen, hat die Alpennation einen grossen Einfluss. Sie beherbergt einige der grössten Kakaohändler und Schokoladeunternehmen der Welt.
Die Kakaoplattform will erreichen, dass der gesamte in die Schweiz importierte Kakao «nachhaltig» ist. Darunter versteht man sowohl die Fairtrade- und Rainforest-Alliance-Zertifizierung als auch von Dritten verifizierte Programme von Unternehmen.
Christine Müller ist Geschäftsführerin der Kakaoplattform. Einst war sie für das Bundesamt für Landwirtschaft und für Nestlé tätig. Müller sagt, die Zertifizierung sei nicht alles. «Eine Zertifizierung gibt Ihnen niemals eine hundertprozentige Garantie, dass es keine Kinderarbeit gibt. Kontrollen werden nur einmal pro Jahr durchgeführt.»
Die Kakaoplattform hat auch Standards und Messwerte festgelegt, anhand derer sie die Fortschritte überwacht. Zudem führt sie Pilotprojekte durch, welche vom Staatssekretariat für Wirtschaft Seco und der Industrie in Bereichen wie Einkommen und kultureller Diversifizierung mitfinanziert werden.
Ob die Bemühungen der Staaten und Unternehmen diesmal ausreichen, um einen echten Wandel herbeizuführen, ist fraglich.
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