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«Die Krise kam zum ungünstigsten Zeitpunkt»

Erfahrene Managerin im Hochtechnologie-Bereich: Laurence de la Serna. Olivier Vogelsang

Die Luftfahrtindustrie ist wegen der Covid-19-Pandemie schwer angeschlagen. Um überleben zu können, müssen die Zulieferer diversifizieren. Was das bedeutet, erklärt Laurence de la Serna, Geschäftsführerin des Genfer Familienunternehmens Jean Gallay SA, im Interview.

Das 1898 gegründete Genfer Unternehmen Jean Gallay ist auf die Herstellung von Komponenten für Flugzeugtriebwerke und Industriegasturbinen spezialisiert. Der Jahresumsatz des Familienunternehmens beläuft sich auf 30 Millionen Franken. Knapp 90 Prozent der Produktion werden exportiert, vor allem in die USA. Jean Gallay beschäftigt derzeit 160 Mitarbeiter; aufgrund der Pandemie mussten im vergangenen September 40 Mitarbeiter entlassen werden.

swissinfo.ch: Frau de la Serna, im September 2020 mussten Sie 40 Angestellte entlassen – fast einen Fünftel Ihrer Belegschaft. Warum der radikale Schritt?

Laurence de la Serna: Die Pandemie hat die Luftfahrtindustrie schwer getroffen. Die Krise kam zum ungünstigsten Zeitpunkt: Der Sektor befand sich im Aufschwung, da eine Verdoppelung der weltweiten zivilen Flotte erwartet wurde und eine neue Generation von Triebwerken auf den Markt kam. Unsere Auftragsbücher waren voll. Wir hatten gerade unsere Belegschaft aufgestockt und in neue Maschinen investiert.

Die Pandemie stoppte das alles. Wir hatten keine andere Wahl, als unsere Teams zu verkleinern. Nur so konnten wir die Zukunft unseres, seit über 100 Jahren bestehenden Unternehmens sichern. Weil wir davon überzeugt sind, dass der Aufschwung nicht V-förmig, sondern U-förmig verlaufen wird, war Kurzarbeit für die am stärksten betroffenen Stellen keine praktikable Lösung.

Wie blicken Sie nun die Zukunft?

Wegen der Krise haben wir uns selbst viele Fragen gestellt. Ich glaube aber, dass sie uns stärker gemacht hat. Während meiner zwölf Jahre als CEO musste ich auch andere Krisen bewältigen. Aus allen sind wir ziemlich gestärkt hervorgegangen. Ich erinnere mich an die Finanzkrise 2009, als wir auf Kurzarbeit zurückgreifen mussten, oder den plötzlichen Wertanstieg des Frankens im Jahr 2011.

Als Geschäftsführerin stelle ich meine Erfahrung nun Nicolas Lavarini zur Verfügung, der seit Januar 2020 unser CEO ist. Für uns ist jetzt wichtig, von der Luft- und Raumfahrt unabhängiger zu werden, 85 Prozent unseres Umsatzes generieren wir in diesem Bereich.

Doch ist eine Umstellung überhaupt realistisch auf kurze Sicht? Und welche Branchen haben Sie im Fokus?

Die Diversifizierung, die wir ins Auge fassen, ist mittelfristig realistisch, aber sie muss sorgfältig vorbereitet werden. Natürlich werden wir auch weiterhin unser Knowhow im Feinkesselbau, einer unserer Spezialitäten, nutzen. Im Moment denken wir über mehrere neue Nischen nach, insbesondere über die Herstellung von Wasserstoffkapseln für die nachhaltige Mobilität sowie über Projekte im medizinischen Bereich.

Laurence de la Serna verfügt über umfangreiche Erfahrungen im Industrie- und Bankensektor. Nach ihrem Studium in der Schweiz und in den USA, das sie mit einem MBA in Finanzwesen abschloss, arbeitete sie in Genf. Von 2008 bis 2019 war sie CEO und Direktorin des Genfer Familienunternehmens Jean Gallay SA. Dort ist sie nun Geschäftsführerin.

Sie war ausserdem Präsidentin der Genfer Handels-, Industrie- und Dienstleistungskammer (CCIG), wo sie aktuell das Amt der Vizepräsidentin ausübt.  

Die Jean Gallay SA ist ein Unterauftragnehmer und liefert keine eigenen Produkte. Sehen Sie diesbezüglich irgendwelche Änderungen vor?

In mancherlei Hinsicht ist unsere derzeitige Position etwas fragil: Wir sind von unseren Kunden abhängig, die manchmal auch unsere Konkurrenten sind. Daher betrachten wir die Diversifizierung unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung eigener Produkte. Zu diesem Zweck investieren wir in neue Technologien und Produkte, die wir vermarkten möchten.

Spielen persönliche Beziehungen eine wichtige Rolle bei der Kundengewinnung?

Die Luftfahrtbranche ist sehr wettbewerbsorientiert, da gibt es keinen Platz für Vetternwirtschaft. Die meisten unserer Kunden sind grosse Triebwerkshersteller wie Pratt & Whitney, Safran oder Rolls Royce, und ihre Aktionäre haben sehr hohe finanzielle Erwartungen. Unser grösster Trumpf bei der Gewinnung und Bindung von Kunden ist der gute Ruf, den wir uns über Jahrzehnte hinweg erworben haben: Wer uns engagiert, weiss, dass wir zuverlässig sind und auch sehr komplexe Teile herstellen können.

Darüber hinaus wenden sich diese Motorenhersteller häufig an Jean Gallay, wenn es um technische Dienstleistungen oder die Herstellung neuer Referenzen geht. Manchmal sind wir sogar das einzige Unternehmen, das für die Herstellung bestimmter Teile ausgewählt wird, während es branchenüblich ist, mindestens zwei Firmen zu beauftragen.

Wie gelingt es Ihnen, trotz der hohen Produktionskosten in der Schweiz wettbewerbsfähig zu bleiben?

Wir optimieren ständig unsere Prozesse und investieren in effiziente Maschinen. Um die Zukunft unseres Unternehmens und die Qualität unserer Dienstleistungen langfristig zu sichern, lehnen wir es strikt ab, Schweizer Qualität zu Tiefpreisen anzubieten. Ich bin auch der Meinung, dass Dumpingpreise erhebliche Nebenwirkungen auf die Umwelt sowie die Deindustrialisierung der entwickelnden Länder haben.

Wie wichtig ist für Jean Gallay das Offset-Geschäft im Zusammenhang mit den künftigen Kampfflugzeugen der Schweizer Armee?

Diese Einnahmen sind sehr wichtig, da sie 60 Prozent der sechs Milliarden ausmachen, die für den Kauf dieser Flugzeuge vorgesehen sind. Darüber hinaus müssen mindestens ein Drittel der Aufträge an Unternehmen in der Westschweiz vergeben werden. Wir werden sehr sorgfältig darauf achten, dass diese Prozentsätze eingehalten werden.

In der Vergangenheit haben wir durch Kompensationshandel neue Kunden, neue Märkte und neue Technologien gewinnen können. Besonders erfreulich ist, dass einige der so gewonnenen Käufer zu Langzeitkunden geworden sind. Dies ist eine grosse Chance für die Entwicklung unseres Unternehmens und schafft auch neue Arbeitsplätze.  

Die Entscheidung für ein US-Unternehmen, gerade Lockheed Martin, wird oft als weniger attraktiv für Offset-Geschäfte angesehen.

In der Tat, aber ich verstehe diese Befürchtungen nicht, da Lockheed Martin genau die gleichen Verpflichtungen hat wie die europäischen Flugzeughersteller.

Was bedeutet der Abbruch der Verhandlungen über ein EU-Rahmenabkommen für Jean Gallay?

Fast 90 Prozent unserer Produktion werden exportiert, vor allem innerhalb der EU. Daher sehe ich alles, was die bilateralen Beziehungen zur EU schwächen könnte, sehr kritisch. In diesem Sinne müssen wir unbedingt Zölle oder neue administrative Hindernisse vermeiden.

Konkret bedeutet der Abbruch der Verhandlungen wohl den Ausschluss der Schweiz aus dem Forschungsprogramm Horizon. Und der Energiesektor könnte schon bald den Preis für das Fehlen eines Stromabkommens zahlen. Insbesondere, wenn die Schweiz endgültig aus der Kernenergie aussteigt.

(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)

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