Die Schweiz will ihre Neutralität neu ausrichten
Ein geleakter Bericht zeigt, wie die Schweiz ihre Neutralität in Zukunft auslegen will. Die Kontroverse um die Aufnahme ukrainischer Verletzter zeigt die Dringlichkeit eines Richtungswechsels.
Die SonntagsZeitungExterner Link hat gestern Inhalte des Neutralitätsberichts publik gemacht, den Aussenminister Ignazio Cassis beim Aussendepartement in Auftrag gegeben hatte und der bis Ende des Sommers von der Regierung verabschiedet werden soll. Der letzte Neutralitätsbericht aus dem Jahr 1993 führte zu einem Richtungswechsel bei der Auslegung der Neutralität. Und das wird auch vom neuen Neutralitätsbericht erwartet.
Laut der SonntagsZeitung preist das Dokument die «kooperative Neutralität» als die zielführendste Option an. Es handelt sich dabei um eine Wortschöpfung des Schweizer Aussenministers Ignazio Cassis und nicht um einen Rechtsbegriff. Das wirft viele Fragen auf. Auf Anfrage von SWI swissinfo.ch will sich das Aussendepartement nicht näher zum Inhalt des Berichts äussern. Dieser befinde sich derzeit in der Ämterkonsultation. Der Bericht solle die im März dieses Jahres veröffentlichte Broschüre über die Neutralität ergänzen und ein besseres Verständnis der Neutralität im aktuellen Kontext ermöglichen.
Das versteht der Aussenminister unter «kooperativer Neutralität»
Mit dem neuen Begriff würde sich an der bewaffneten und dauernden Neutralität der Schweiz nichts ändern. Cassis möchte lediglich den Handlungsspielraum bei aussenpolitischen Positionierungen erweitern und die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Staaten stärken.
Konkret geht es darum, dass die Schweiz weiterhin Sanktionen wie jene gegen Russland übernehmen sowie mit der Nato und der EU gemeinsame militärische Übungen auf Schweizer Boden durchführen kann.
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Auch sollen militärische Flüge über die Schweiz für Nicht-Konfliktparteien erleichtert werden. Und wenn Partnerstaaten in der Schweiz produzierte Waffen oder Munition an Kriegsparteien weiterleiten wollen, wie jüngst Deutschland oder Dänemark, würde die Schweiz dies nicht mehr untersagen.
Geht es nach dem Willen des derzeitigen Aussenministers, würde die Schweiz also vor allem die eigene Gesetzgebung lockern und den Spielraum des internationalen Neutralitätsrechts ausschöpfen.
Hauruck um ukrainische Kriegsverletzte
Dass eine Einigung über die Neutralität der Schweiz angezeigt ist, zeigt unter anderem die jüngste Kontroverse um die Aufnahme ukrainischer Patient:innen.
Laut einer Recherche des Tages-AnzeigersExterner Link hat eine Suborganisation der NatoExterner Link, welche die medizinischen Evakuierungen aus der Ukraine international koordiniert, im Mai bei der Schweiz angefragt, ob sie ukrainische Soldaten, kriegsverletzte Zivilist:innen, Krebskranke und Opfer von Verkehrsunfällen aufnehmen und medizinisch behandeln könnte. Die Spitäler in der Ukraine sind überlastet.
Das Verteidigungsdepartement und die Kantone waren einverstanden. «Aufgrund der Dringlichkeit hat der Koordinierte Sanitätsdienst des Bundes (KSD) in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) Vorbereitungsarbeiten aufgenommen, um eine Koordination von Patientinnen und Patienten möglichst rasch umsetzen zu können», schreibt Ralph Kreuzer vom KSD auf Anfrage von swissinfo.ch. «Nach einem positiven politischen Entscheid hätte der KSD in Zusammenarbeit mit der GDK und den Spitälern die verfügbaren Plätze laufend eruiert und Zuteilungen koordiniert.»
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Das Aussendepartement kriegt kalte Füsse
Doch dazu kam es nicht, denn das Aussendepartement grätschte dazwischen. Es führte neutralitätsrechtliche und praktische Gründe gegen eine Aufnahme von Patient:innen ins Feld. Die in der Schweiz bereits getroffenen Vorbereitungsmassnahmen wurden folglich abgebrochen.
Pierre-Alain Eltschinger vom Aussendepartement schreibt auf Anfrage: «Die Abklärungen haben ergeben, dass die Schweiz grundsätzlich mit ihrer Hilfe und ihrem humanitären Engagement vor Ort besser und effizienter unterstützt, als wenn Patientinnen und Patienten in der Schweiz aufgenommen werden. Zudem gab es neutralitätsrechtliche Hindernisse, bei der Aufnahme militärischer Patienten und eine Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Patienten ist kaum möglich.»
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Tatsächlich muss ein neutrales Land gemäss internationalem Recht dafür sorgen, dass Soldat:innen nach ihrer Genesung nicht mehr an Kriegshandlungen teilnehmen können. Im Zweiten Weltkrieg internierte die Schweiz ausländische Militärangehörige deshalb in Lagern und hinderte sie damit an einer Ausreise.
Fragen zur Neutralität bleiben offen
Laut Eltschinger unterstützt die Schweiz ukrainische Spitäler in Lviv, Sumy und Chernihiv im Rahmen der humanitären Hilfe. Sie ist besonders in der Rehabilitation sowie der Ausbildung von Physiotherapeut:innen engagiert. Auf Anfrage von ukrainischen Spitälern liefert die Schweiz auch Medikamente oder Geräte.
Im Vergleich zu europäischen Ländern klingt dies eher zauderhaft. Über das EU-Katastrophenschutzverfahren werden schon länger hunderte ukrainische Patient:innen in europäische Spitäler verlegt.
Auch bleiben viele Fragen offen: Ist es mit dem Neutralitätsrecht vereinbar, den Spitälern nur einer Kriegspartei zu helfen oder müsste die Schweiz konsequenterweise auch Russland Hilfe anbieten? Ist es wirklich so kompliziert, Verletzte von einer Rückkehr in Kämpfe abzuhalten oder würde ein Heimat-Reiseverbot wie bei Flüchtlingen genügen? Fragen, die vom Aussendepartement offengelassen wurden. Eine Klärung neutralitätsrechtlicher Fragen im aktuellen Kontext ist überfällig, der Bericht kommt also zur rechten Zeit.
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