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«Wir müssen die Vorteile des europäischen ‹Klubs› noch besser erklären»

EU-Botschafter Michael Matthiessen in Bern
Vor seiner Rolle als Botschafter in Bern war der Däne Michael Matthiessen (62) zuständig für das Asia-Europe-Meeting zwischen der EU und 20 asiatischen Staaten. Der Karrierediplomat studierte Politikwissenschaften in Dänemark und Internationale Beziehungen in Paris. Andreas von Gunten © Délégation de l’UE, Berne

Michael Matthiessen ist seit 2016 Botschafter der EU in der Schweiz. Langweilig wurde es ihm bis jetzt noch nie – Masseneinwanderungs-Initiative und Rahmenabkommen hielten ihn stets auf Trab. Mit swissinfo.ch sprach er über die Errungenschaften der EU, den Stand der Verhandlungen und den regen Austausch zwischen Schweizern und EU-Bürgern.

Dieses Wochenende tagt der Kongress der Auslandschweizer-Organisation (ASO) in Visp. Rund zwei Drittel aller Auslandschweizer leben in der Europäischen Union. Auf eine Bevölkerung von acht Millionen ist dies eine beachtliche Zahl. Grund genug, die Beziehung der Schweiz mit der EU genauer unter die Lupe zu nehmen. Schliesslich laufen trotz Rekordhitze die Verhandlungen zum Rahmenabkommen auf Hochtouren weiter. Bis Herbst ist ein Abschluss vorgesehen.

Jährlich im August organisiert die Auslandschweizer-Organisation (ASO)Externer Link einen Kongress für Auslandschweizer. Die Themen sind so ausgewählt, dass sie den Interessen und Erwartungen dieser Zielgruppe entsprechen. Thema dieses Jahr: «Die Schweiz ohne Europa – Europa ohne die SchweizExterner Link«

swissinfo.ch: Sie sind seit zwei Jahren EU-Botschafter in der Schweiz. Wie sehen sie unser Land?

Michael Matthiessen: Die Schweiz ist ein wunderbares Land, und die Schweizer sind sehr gastfreundlich. Mich fasziniert das komplexe, aber effiziente politische System. Vieles daran erinnert mich an die EU.

In der Schweiz gibt es 26 Kantone, vereint in einem föderalistischen System, es gibt Sprachenvielfalt und eine politische Kultur, die auf Kompromiss und Konsens beruht. All das gibt es auch in den europäischen Institutionen mit ihren 28 Mitgliedstaaten, 22 offiziellen Sprachen und dem Kollegialitätsprinzip, das allen Entscheidungen der Kommission zugrunde liegt.

Nun muss ich aber sagen, dass ich mehr Arbeit habe, als ich erwartet hatte. Ich langweile mich nicht (lacht)! Ich begann meine Arbeit im September 2016, am Ende einer schwierigen, fast dreijährigen Phase nach der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative, die letztlich mit dem «Inländervorrang light» ihren Abschluss fand. Nun hat sich die Situation entspannt und wir sind dabei, ein Rahmenabkommen mit der Schweiz auszuhandeln.

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swissinfo.ch: Sie haben bereits etliche Kantone besucht. Ein beachtlicher Teil der Schweizer Bevölkerung ist der EU gegenüber kritisch eingestellt. Fühlen sie sich manchmal unbeliebt?

M.M.: Ich glaube nicht, dass ein Botschafter primär beliebt sein muss. Ich habe eine Rolle als «Übersetzer». Ich beobachte das, was in der Schweiz passiert, was ich sehe, höre und lese. Und darüber informiere ich Brüssel. Gleichzeitig erkläre ich den EU-Standpunkt in der Schweiz.

Natürlich respektieren wir, dass ein Teil der Schweizer Bevölkerung der EU gegenüber skeptisch eingestellt ist. Diese Skepsis gibt es auch in gewissen Mitgliedstaaten. Ich stamme aus Dänemark. Auch dort gibt es EU-Skeptiker, auch dort hatten wir Referenden über Europafragen.

Doch wenn sie sich die letzten Statistiken von Eurostat anschauen, sehen sie, dass die Unterstützung für Europa noch nie so stark war wie jetzt. Vielleicht denken die Bürger der EU, dass es in der momentanen Zeit gar nicht so schlecht ist, Mitglied eines Klubs zu sein.

swissinfo.ch: Wenn sie die EU und ihre Position verteidigen, welche Punkte sind am schwierigsten zu erklären?

M.M.: Ich stelle oft fest, dass in einigen Kreisen in der Schweiz die EU als undemokratische Institution dargestellt wird. Da muss ich jeweils mit Nachdruck intervenieren. Gewiss, die Schweiz hat das am weitesten entwickelte System der direkten Demokratie weltweit. Aber parlamentarische Systeme sind auch Demokratien.

«Die Unterstützung für Europa war noch nie so stark wie jetzt.»

Zudem kennen viele europäische Länder das Instrument des Referendums. Niemand hat die EU-Länder dazu gezwungen, Mitglied zu werden. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten führte vor dem Beitritt Volksbefragungen durch.

Ein demokratisches System ist eine Vorbedingung für eine EU-Mitgliedschaft. Die EU-Institutionen sind ebenfalls demokratisch. Die Kommission, deren Präsident vom Ministerrat vorgeschlagen wird, muss vom direkt gewählten EU-Parlament bestätigt werden. Es kann auch schon mal vorkommen, dass das Parlament einen Kommissar ablehnt.

Das Parlament entscheidet auch über alle EU-Gesetze. Der zweite Mitgestalter in der Gesetzgebung ist der Ministerrat, der die demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten repräsentiert. All das ist oft nicht wirklich bekannt!

swissinfo.ch: Kommen wir auf die Beziehung Schweiz-EU zu sprechen: Warum brauchen wir dieses Rahmenabkommen?

M.M.: Ohne EU- oder EWR-Mitglied zu sein, hat die Schweiz dank den bilateralen Verträgen Zugang zum europäischen Binnenmarkt, dem grössten Markt der Welt. So können sich Schweizer Unternehmen in die Wertschöpfungsketten der europäischen Industrie eingliedern und regen Handel betreiben – immerhin tauscht die Schweiz mit Baden-Württemberg mehr Waren als mit China, mit Norditalien mehr als mit Japan!

«Wenn die EU als undemokratische Institution dargestellt wird, muss ich jeweils mit Nachdruck intervenieren.»

Doch der Binnenmarkt ist weit mehr als bloss eine Freihandelszone. Er setzt eine kohärente und dynamische Rechtsgrundlage voraus. Und die fehlt in den bilateralen Verträgen, da diese ursprünglich als Übergangslösung für einen eventuellen Beitritt betrachtet wurden.

Da die Schweiz aber weder der EU noch dem EWR beitreten will, dennoch aber den Zugang zum Binnenmarkt erweitern möchte, z.B. mit einem Stromabkommen, ist es nun Zeit, die bilateralen Verträge mit einem Rahmenabkommen zu konsolidieren. Dies mit dem Ziel, dass die Unternehmen auf beiden Seiten in einem System der gleich langen Spiesse und Rechtssicherheit agieren können. Und dass wir unsere Beziehungen in neuen Bereichen weiterentwickeln können.

Ich würde gerne hinzufügen, dass die Schweiz und die EU ihre Geografie, Sprachen und Werte teilen. Auf internationaler Ebene verteidigen wir beide ein multilaterales System, das auf dem Völkerrecht basiert. Dieses wird momentan von verschiedenen Seiten attackiert. Bundespräsident Alain Berset und Bundesrätin Doris Leuthard haben neulich gesagt, dass die Beziehung Schweiz-EU im aktuellen geopolitischen Kontext betrachtet werden muss.

swissinfo.ch: Versteht die EU nicht, dass die Schweiz mit ihrer grossen Anzahl europäischer Einwanderer und Grenzgänger gewisse Vorbehalte gegenüber der Personenfreizügigkeit hat?

M.M.: Die Personenfreizügigkeit ist eines der Fundamente der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU. Man darf nicht vergessen, dass die Personenfreizügigkeit im Allgemeinen gut funktioniert und die Schweiz und die EU davon profitieren. Es gäbe nicht 1,4 Millionen EU-Bürger in der Schweiz, wenn die Schweizer Unternehmen nicht angewiesen wären auf europäische Arbeitskräfte. Es gäbe keine 300’000 Grenzgänger, wenn die Nachfrage nicht so hoch wäre.

Ich möchte auch unterstreichen, dass die Freizügigkeit die Mobilität in beide Richtungen ermöglicht. Auch die Schweizer können in ihren Nachbarländern arbeiten, dort dank Programmen wie Horizon 2020 studieren und forschen, oder dank dem Schengener Übereinkommen die Grenzen ohne Kontrollen passieren.

Proportional gesehen gibt es sogar mehr Schweizer in der EU als umgekehrt: knapp 470’000 Schweizer wohnen in der EU, was aufgerechnet auf 8,3 Millionen deutlich mehr ist als die 1,4 Millionen Europäer in der Schweiz, bei einer Gesamtbevölkerung von 512 Millionen.

«Es gäbe keine 300’000 Grenzgänger in der Schweiz, wenn die Nachfrage nicht so hoch wäre.»

swissinfo.ch: Die EU stört sich an den flankierenden Massnahmen, beispielsweise an der 8-Tage-RegelExterner Link. Die Schweiz wird doch noch Massnahmen ergreifen dürfen, um dem Lohndruck zu begegnen!

M.M.: Die EU will ja nicht verhindern, dass die Schweiz sich gegen den Lohndruck wehren kann. Die EU hält das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» ebenfalls hoch und kennt auch Massnahmen gegen Lohndumping. Das Problem ist, dass gewisse Massnahmen der Schweiz gegenüber Unternehmen aus der EU diskriminierend sind und protektionistisch anmuten.

Was wir versuchen zu sagen, ist Folgendes: Können wir nicht das gleiche Lohnniveau halten mit einer Kontrollmethode für ausländische Arbeitnehmer, die nicht diskriminiert und den europäischen Regeln ähnlicher ist? Die europäischen Regeln gelten nämlich für alle Binnenmarkt-Teilnehmer.

Externer Inhalt
SRF Tagesschau vom 8. August 2018: Gewerkschaften verweigern Gespräche mit dem Bundesrat über flankierende Massnahmen

swissinfo.ch: Falls die Verhandlungen erfolgreich verlaufen, können wir dann sichergehen, dass die Börsenäquivalenz für die Schweiz wieder unbefristet besteht? Immerhin handelt es sich hier um eine äusserst harte Massnahme…

M.M.: Die Entscheidung über die Börsenäquivalenz wurde von der Kommission mit der Zustimmung fast aller Mitgliedstaaten getroffen. In der Tat ist dies eine starke Massnahme. Aber in internationalen Verhandlungen sendet man sich ab und zu Signale.

In diesem Fall signalisierte die EU, dass eine Verbindung besteht zwischen der Börsenäquivalenz und dem Rahmenabkommen. Gibt es Fortschritte bei letzterem, wird sich das positiv auf die Entscheidung zur Börsenäquivalenz auswirken. Und der Bundesrat hat ja gesagt, er wolle ein Rahmenabkommen noch dieses Jahr.

«Die Entscheidung über die Börsenäquivalenz ist in der Tat eine starke Massnahme.»

swissinfo.ch: Rechtskonservative Kreise wehren sich gegen ein Rahmenabkommen. Die Rede ist von Souveränitätsverlust und vom Tod der direkten Demokratie.

M.M.: Ich glaube nicht, dass das Rahmenabkommen die Schweiz weniger unabhängig machen wird. Ich stelle fest, dass Bundesrat Ignazio Cassis und Staatssekretär Roberto Balzaretti sich sehr dafür einsetzen, die Wichtigkeit der Beziehung Schweiz-EU zu erklären. Sie unterstreichen die Notwendigkeit, eine stabile Basis für die bilateralen Verträge zu schaffen, um den Zugang zum Binnenmarkt für die Schweiz sicherzustellen.

Aber es liegt nicht an uns, zu beurteilen, ob ein solches Abkommen im Interesse der Schweiz ist. Auch verhandeln wir nicht mit den politischen Parteien oder dem Volk, sondern mit der Regierung. Demnach obliegt es der Schweiz, gemäss ihrem demokratischen System – Bundesrat, Parlament, Volk – die Vor- und Nachteile abzuwägen. Wir werden den Entscheid der Schweiz akzeptieren.

swissinfo.ch: Der Brexit, aber auch der Aufstieg anti-europäischer Parteien in mehreren Mitgliedstaaten zeigen auf, wie stark sich das gemeinsame europäische Projekt in der Krise befindet. Macht die EU hier nicht etwas falsch, sollte sie ihre Strategie anpassen?

M.M.: Wenn wir die gesamte Europäische Union anschauen, dann sind nach wie vor mehrheitlich «Mainstream»-Parteien an den Regierungen, also Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale. Doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass populistische Parteien wachsenden Zuspruch erhalten und dass man diese Entwicklung sehr ernst nehmen sollte.

Gerade deswegen ist das Programm der Kommission unter Jean-Claude Juncker sehr politisch und zielt auf mehr Engagement im Bereich des Wirtschaftswachstums, der Reduktion der Arbeitslosigkeit und der Steuerung der Immigration ab.

Ein zentraler Punkt ist die Subsidiarität. Namentlich hat die Kommission Juncker die Anzahl der Gesetzesvorschläge der Kommission von über hundert auf fünfundzwanzig pro Jahr reduziert. Wenn ein Problem auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene gelöst werden kann, umso besser. Brüssel muss sich nicht um alles kümmern.

Die EU ist nicht perfekt. Aber vergessen wir nicht, wie Europa vor siebzig Jahren aussah und was für Vorteile wir alle aus der europäischen Integration ziehen. Wenn wir in der heutigen globalisierten Welt unsere europäischen Werte und Interessen verteidigen wollen, glaube ich, dass es von Vorteil ist, Mitglied in einem Klub zu sein mit einer Kommission, die international verhandeln kann. Vor allem glaube ich, dass wir die Vorteile der EU noch besser erklären müssen.

«EU-Bürger, vor allem die Jungen, haben ein viel freieres und einfacheres Leben dank der EU, sind sich dessen aber nicht bewusst.»

swissinfo.ch: Die europäische Integration hat den Kontinent verändert, aber auch unser Privatleben.

M.M.: Exakt. Und die Vorteile im Alltag sind am wichtigsten. Ich habe zwei erwachsene Kinder, die noch nie an der Grenze angehalten wurden, ihr Handy ohne Roaming-Gebühren in der ganzen EU benutzen können, Billigflüge aufgrund des europaweiten Wettbewerbs buchen können und auf Reisen in Europa noch nie Geld wechseln mussten.

EU-Bürger, vor allem die Jungen, haben ein viel freieres und einfacheres Leben dank der EU, sind sich dessen aber nicht bewusst – sie haben den Krieg nicht erleben müssen und wissen nicht, wie Europa aussah, als es noch ein Kontinent rivalisierender Nationalstaaten war.

Aus dem Französischen übersetzt von Mattia Balsiger

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