Für eine offene und innovative Landwirtschaft
Die Schweizer Landwirtschaft durchlebt die Öffnung gegenüber Europa im Krebsgang. Laut Bernard Lehmann, dem neuen Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW), müssen die Bauern ihre Chance im Ausland packen und auf Nachhaltigkeit setzen.
Als Professor für Agrarwirtschaft an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ), Bauernsohn und ehemaliger Vize-Direktor beim Schweizerischen Bauernverband (SBV) widmet sich Lehmann seit Langem der Forschung und Lehre. Nun übernimmt er mit 57 Jahren ein exponiertes Amt in einer schwierigen Zeit.
swissinfo.ch: Wo setzen Sie als BLW-Chef die Prioritäten?
Bernard Lehmann: Ich übernehme die Leitung im BLW in einer Zeit, in der das Landwirtschaftsgesetz reformiert und das Direktzahlungssystem neu geregelt wird. 2014 soll es in Kraft treten. Das ist eine meiner Prioritäten.
Einflussreiche Gruppen wehren sich gegen eine Öffnung der Schweizer Landwirtschaft gegenüber dem europäischen Markt. Andere sind der Ansicht, die Öffnung sei längerfristig unumgänglich.
Dieses Thema wird eine weitere Priorität sein. Man muss die Landwirtschaft darauf vorbereiten. Weniger durch Druck oder Drohungen, wie das 20 Jahre lang getan wurde, sondern indem man den Berufsstand dazu bringt, seine Strukturen und die Positionierung seiner Produkte mit Lust besser anzupassen. Es ist wichtig, dass die kommende Öffnung mehr Freude bringt und weniger Angst macht.
swissinfo.ch: Der Nationalrat, die grosse Parlamentskammer, verlangt, dass die Verhandlungen über ein EU-Agrarfreihandels-Abkommen abgebrochen werden. Beunruhigt Sie das?
B.L.: Zusammen mit Bundesrat Schneider-Ammann werden wir versuchen, einen Mittelweg zwischen diesen unterschiedlichen Spannungsfeldern zu finden. Der Nationalrat fordert von der Landesregierung, die Verhandlungen zu stoppen. Die zweite Kammer, der Ständerat, wird später darüber debattieren.
Der Bundesrat wird letztlich diese Forderungen berücksichtigen müssen. Die Entscheide der beiden Kammern werden die Haltung der Regierung beeinflussen.
Langfristig ist das Ziel jedoch gesetzt. In Zukunft geht es darum, mit diesem Übergang, der vielleicht länger als vorgesehen dauern wird, besser umzugehen.
swissinfo.ch: Eignet sich die Schweizer Landwirtschaft wirklich für den Export wie andere Wirtschafssektoren?
B.L.: Ja. Diese Landwirtschaft hat Potential und Leistungsstärke. Man kann keine Rohprodukte ausführen, das muss über die Verarbeitungs-Sektoren geschehen – die Bewirtschaftung und Veredelung jener Produkte, die für ausländische Konsumenten interessant sein könnten. Ich denke, es gibt viel wichtigere Optionen als jene, die wir heute nutzen. Das geht natürlich nicht ohne Innovationen und Anstrengungen.
Im Gegenzug wird die Schweiz auch «Low Budget»-Produkte einführen. Auch die Schweizer konsumieren diese Art von Gütern, das ist keineswegs paradox.
swissinfo.ch: Welches sind diese Kräfte, welche die Schweizer Landwirtschaft im Ausland besonders hervorheben kann?
B.L.: Die europäischen und globalen Konsumenten werden sich der Risiken beim Verzehr anonymer oder zu billiger Produkte immer bewusster.
Die Positionierung von Schweizer Produkten basiert auf sehr strengen Umwelt- und Gesundheits-Programmen. Aber die Verpflichtungen von heute sind die Standards von morgen. Und die Investitionen der Schweizer Landwirte entsprechen der Eroberung eines Platzes auf dem Markt.
swissinfo.ch: Im Ausland wird die Schweizer Landwirtschaft oft als «überprotegiert» wahrgenommen. Stimmt das?
B.L.: Im Vergleich mit Nachbarländern wie etwa Frankreich oder Deutschland sind die Betriebe und Parzellen in der Schweiz kleiner. Unsere Landschaft ist viel stärker zerstückelt. Das kommt teuer zu stehen. Aber der Schweizer Steuerzahler ist dazu bereit, für die Qualitätserhaltung dieser Landschaft zu zahlen.
Aus diesem Grund übrigens sind im neuen Direktzahlungs-System ausdrücklich Zahlungen für die Qualität der Kulturlandschaft vorgesehen. Je mehr sich der Bauer um den Erhalt einer vielfältigen Landschaft bemüht, desto besser wird er bezahlt. Diese Beiträge zahlen sich aus, da sie einer Forderung der Gesellschaft entsprechen.
swissinfo.ch: Diese Kosten führen aber auch dazu, dass die Schweizer Landwirtschaft gegenüber den grossen Agrarstaaten nie konkurrenzfähig sein wird. Wie lässt sich da die Liberalisierung und Globalisierung in diesem Sektor rechtfertigen?
B.L.: Man muss die Vorteile dieses globalen Wettbewerbs sehen, der den Unternehmer- und Innovationsgeist belebt, während der Protektionismus ihn lähmt, weil er alles ausnahmslos schützt.
Die Globalisierung bringt einen Reflex der Differenzierung mit sich. Um nicht einen riesigen Massenmarkt beliefern zu müssen, setzt man auf spezifische Produkte. Vorher hatte jener, der geschützt wurde, das Recht auf einen besseren Preis, ohne unbedingt ein Premium-Produkt herzustellen. Künftig wird jener, der ein Premium produziert, besser bezahlt.
Die Wirtschaftsmaschinerie muss aber auch gemäss den Kriterien der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit gemeistert werden. In der Schweiz hat man viel getan, damit die Umwelt und das Soziale respektiert werden.
swissinfo.ch: Sie sprechen von Umweltschutz: Konsumieren Sie selber Bioprodukte?
B.L.: Zu 30 bis 40% in unserem Haushalt. Als Wissenschafter ist es jedoch sehr schwierig, pauschal entweder für oder gegen Bio zu argumentieren. Bio hat interessante, aber auch delikate Aspekte. Weltweit sind drei Milliarden Haushalte in der Landwirtschaft beschäftigt. 2,5 Milliarden sind aber Biobauern, weil ihnen das Geld für Düngemittel und Pestizide fehlt.
Bei der Analyse des Bodens dieser Betriebe in der Sahelzone stellten meine Kollegen fest, dass diese Böden sich verschlechtern. Die Bauern haben zu wenig Mist, und ein Teil der Biomasse geht den Feldern mit dem Verkauf der Produkte in die Stadt verloren, wohin viele Leute hingezogen sind. Bio bringt letztlich also auch ein Problem.
Viele Leute kaufen Bioprodukte, weil sie diese mit einer menschlicheren und ursprünglicheren Landwirtschaft in Verbindung bringen. Für mich müssen Bio-Landwirtschaft und konventionelle Landwirtschaft über ihre eigenen Dogmen hinauswachsen und die jeweiligen Vorteile kombinieren.
Und fragen Sie mich nicht, welche Rolle die Genetik in all dem spielen soll. Ich weiss es nicht. Ich gebe zu, dass mich dieses Thema etwas beunruhigt, weil wir in einigen Monaten über die Fortsetzung des Moratoriums für gentechnisch veränderte Organismen (GVO) entscheiden müssen.
Aus wirtschaftlicher Sicht sehe ich die Lage folgendermassen, ohne die Gesundheitsaspekte zu berücksichtigen: Bislang haben es die Industrien dieses Sektors nicht geschafft, aufzuzeigen, dass der wirtschaftliche Vorteil dieser Technologie es verdient, dass wir den GVO-freien Markt aufgeben. Wenn wir uns gegenüber GVO zurückhaltend zeigen, könnte dies den Schweizer Produzenten erlauben, interessante Märkte zu gewinnen.
Knapp 3% der Bevölkerung lebt direkt von der Landwirtschaft, die über einen Drittel der Fläche in der Schweiz einnimmt. Sie macht knapp 1% des Bruttoinland-Produkts aus.
Die Schweizer Bauern produzieren rund 60% aller Nahrungsmittel, die in der Schweiz von Mensch und Vieh verzehrt werden.
Etwa 10% der Bauern setzen auf biologische Landwirtschaft.
Land- und Forstwirtschaft sind im Schweizer Parlament als viertgrösste Berufsgruppe vertreten.
Seit der Einführung von Direktzahlungen vor 20 Jahren werden an die Schweizer Landwirte jährlich 2,8 Mrd. Franken ausgeschüttet.
Das System von Direktzahungen ist zur Zeit im Umbruch.
Das vom Bundesrat vorgeschlagene Direktzahlungs-System umfasst fünf Kernelemente.
Beiträge zur Offenhaltung der Kulturlandschaft
Beiträge zur Erhaltung einer sicheren Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln
Beiträge zur Erhaltung und Förderung der Artenvielfalt
Beiträge zur Erhaltung, Förderung und Weiterentwicklung vielfältiger Kulturlandschaften
Beiträge zur Förderung besonders naturnaher, umwelt- und tierfreundlicher Produktionsformen (zum Beispiel Bio und Integrierte Produktion).
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
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