Ein Mann wie die Schweiz
Aussenminister Ignazio Cassis wird Bundespräsident. Im Amt hat er nur langsam Tritt gefasst, im Bundesrat wirkt er isoliert, seine Erfolge sind wenig sichtbar und das Europadossier ist begraben. Bei aller Kritik: Sein Werdegang verrät viel über die Funktionsweise der Schweiz.
«Flexibel», «wandelbar», das sind Attribute, die Schweizer Politiker:innen Ignazio Cassis verleihen. Andere sagen, er sei «slalomhaft» oder «tapsig». Das ist nicht neu, aber es haftet an ihm. Von ganz links über die Mitte bis ganz rechts klingt so sein Begleitsound aus Bundesbern.
Ein Aussenpolitiker der Sozialdemokraten, sagt: «Er gibt einem recht, und macht dann das Gegenteil. Das führt zu Enttäuschung.» Wie viele will er nicht namentlich genannt werden. Roger Köppel, Aussenpolitiker der Schweizerischen Volkspartei, sagt: «Seine Politik ist zu wenig prinzipiengeleitet, zu sehr auf seine Wahlchancen ausgerichtet.» Und Elisabeth Schneider-Schneiter, Aussenpolitikerin der Mitte-Partei, redet von einem «Charakterzug, der eigentlich ehrbar ist: Er will es allen recht machen.»
Cassis› Medienchef Michael Steiner sieht darin ein Missverständnis. Sein Chef sei offen, konsensorientiert, er höre zu. «Eigentlich erstaunlich, dass dies in der Schweiz als sprunghaft angeschaut wird», sagt Steiner. Cassis selbst fand für ein Gespräch in seiner Agenda keine Zeit.
Das Scheitern
Der Tessiner Ignazio Cassis, 60-jährig, ist ein Prototyp des Schweizer Milizsystems. Er gelangt schnell ins höchste Amt, lanciert von seiner Partei als Schachfigur, um mit einem Tessiner den Sitz im Bundesrat zu garantieren. Ohne jegliche Erfahrung in der Diplomatie fasst er dort das schwierigste Dossier der Schweiz, ein Rahmenabkommen mit Europa.
Und das scheitert in vielen Schritten.
Dies journalistisch herzuleiten, gestaltet sich als nicht ganz einfach: Wir sprachen mit rund zwei Dutzend Leuten aus Politik, Diplomatie. Beobachter:innen und enge Wegbegleiter:innen aus dem Tessin und Bern. Manche gaben informell Auskunft, weil Sie in der Bundesverwaltung tätig sind, oder weil sie persönliche Einschätzungen äussern, was nicht ihrer Funktion entspricht. Andere haben Cassis schon so oft kritisiert, dass sie davon müde sind. Mit Namen möchten sie nicht mehr als Kritiker:innen auftreten.
Bei aller politischer Couleur der Quellen ist das Bild jedoch erstaunlich homogen: Gezeichnet wird ein sympathischer Mann, der politisch schnell weit kam und auf diesem Weg weit rechts gelandet ist. Erfrischend und vielversprechend in den Regierungsjob gestartet, sollte er das verklemmte Verhältnis des Landes zu Europa klären. Und daher kommt nun die Enttäuschung, die auch im Volk greifbar ist. Die tiefste Note von allen erhält bei den Umfragen der SRG in der Bevölkerung fast immer: Ignazio Cassis. Zuletzt im Herbst war es eine 3.1.
Die Chance
Das ist die Lage Ende 2021. Jetzt wird er Bundespräsident – und das wirkt wie ein Licht am Horizont. Kann er sich befreit vom Europa-Dossier vielleicht sogar als Figur des Zusammenhalts etablieren und in der Pandemie als Arzt und Fachmann auftreten? Selbst viele Enttäuschte würden sich dies wünschen, so klingt es aus den Medienberichten zu seiner Wahl – auch weil das gut wäre jetzt für dieses aufgekratzte Land.
Vergessen geht nämlich leicht: Ignazio Cassis ist wie die Schweiz. Slalomhaft und tapsig? Das ist Helvetia mit Europa. Ein Diplomat beschreibt es so: «Die Schweiz ist nett und sagt auch allen, ’seid bitte nett mit uns›. Danach kommt die einfache Gegenfrage: ‹Okay, und was wollt ihr denn?› Dann schweigt die Schweiz. Sie hat keine Antwort.»
Die Pointe ist, dass es keine gibt.
Es gibt keine Bewegung in keine Richtung. Das ist die Schweiz in Cassis› Amtszeit, 2017 wie 2021: verharrend in ihrem Dasein mitten in Europa. Und gefangen in ihrem Sosein: Im Umstand, dass Volk und Parlament jeden Schritt der Regierung jederzeit korrigieren können, bis diese gar keine Schritte mehr wagt.
Die Wurzeln
Vater Luigi Cassis ist Bauer, später Versicherungsvertreter, der Grossvater war ein italienischer Einwanderer, der sich im Tessiner Grenzdörfchen Sessa niedergelassen hatte. «Wenn man mit drei Schwestern und einem Badezimmer aufwächst, lernt man Verhandlungstechnik», sagt Cassis später zu seiner einfachen Herkunft. Der Bub schielt, wird gehänselt, er ist ein Wildfang. Mit 12 verliert er den kleinen Finger seiner rechten Hand an der Zacke eines Zauns, an der er beim Runterfallen hängen bleibt. Mit 15 erhält er den Schweizer Pass, den italienischen behält er.
Mit 26 das Ärzte-Diplom der Uni Zürich, mit 35 Tessiner Kantonsarzt, mit 36 macht er den Doktor der Medizin. Der Traumjob Jazztrompeter ist begraben, Oberfeldarzt, Gelegenheitsraucher. Mit 43 ein erstes politisches Amt im Gemeinderat von Collina d’Oro, der Tessiner Gemeinde, in der er noch heute wohnt, fünf Kilometer von Sessa entfernt, 4600 Einwohner. Mit 46 wird er Nationalrat, eher spät. «Er war nicht Politiker, aber wir sahen in ihm eine gute Kandidatur, deshalb nahmen wir ihn auf die Liste», erinnert sich Fulvio Pelli; er hat Cassis als langjährige Führungsfigur der FDP von Anfang an gefördert. Als Listenfüller gestartet – nicht gewählt, aber gut platziert – rückt Cassis nach, als Parteikollegin Laura Sadis in die Tessiner Regierung wechselt. «Ein intelligenter Typ, sehr lernfähig», sagt sein Förderer Pelli.
Es ist September 2010. Ignazio Cassis – keine Exekutiv-Erfahrung, gerade mal drei Jahre Politiker im Nationalrat und sein politischer Instinkt ist noch in Ausbildung – kandidiert als Bundesrat. Er tue das «für die italienische Schweiz», sagt er. Er erhält 12 Stimmen.
Der Wandel
Die Tessiner FDP kennt zwei Blöcke. Da ist jener, der sich aus dem Umfeld des Finanzplatzes Lugano rekrutiert: wirtschaftsliberal. Der andere ist in Bellinzona daheim, geprägt durch den Kulturkampf, eher progressiv. Es sind Unternehmer:innen, die sich dem gesellschaftlichen Ausgleich verpflichtet fühlen. Ignazio Cassis passt nicht in diese duale Ordnung. «Ihn hier zu platzieren ist wirklich schwierig», sagt Pelli. Cassis ist als junger Mediziner katholisch geprägt, «rational», wie man ihm attestiert, und humanistisch. In der eidgenössischen Kommission für Aidsfragen, in der er als junger Arzt Einsitz nimmt, setzt er sich aktiv gegen die Stigmatisierung von Homosexuellen ein. Er ist bürgerlich, aber für die Cannabis-Legalisierung.
Ein offener Geist, flink, pragmatisch. Ethiker Alberto Bondolfi, der in der Aidsbekämpfung eng mit ihm zusammenarbeitete, sagt über Cassis: «Er war am Anfang Bellinzona, später wurde er Lugano.» Das ist Cassis, der Wandelbare.
Einzelgänger
Das Bild zeigt aber auch: Ignazio Cassis ist von Anfang an nicht richtig verortet. Er hat kein Netzwerk. Als er später seine Wahlkampagne für den Nationalrat führt, tut er das zwar im Namen seiner Partei. Aber seine Plakate sind nicht jene von der FDP, die alle anderen nutzen. Er gibt sich einen eigenen Auftritt. Es wird ein erfolgreicher Alleingang.
Ignazio Cassis ist wie die Schweiz.
Als er als Bub den Finger verliert, bringt ihn sein Vater ins Spital – und geht von dannen. Drei Stunden wartet der junge Ignazio allein in einem dunklen Wartezimmer auf die Amputation seines kleinen Fingers. Er habe früh gelernt, für sich allein zu sorgen, sagt er 2017 der Zeitung «Blick».
«Er wirkt schlecht abgestützt im Bundesrat und in der Verwaltung», sagt heute Politologe Claude Longchamp. Als Bundesrat habe Cassis nicht die Allianzen geschaffen, die ihm helfen, wenn es schwierig wird.
Fehlt ihm das Netzwerk? «In der FDP und ausserhalb gibt es viele Leute, die ihn unterstützen und die ständigen Angriffe von links gegen ihn nicht schätzen», meint Fulvio Pelli, darunter ist auch er selbst. Bekannt ist zudem, dass auch alt FDP-Bundesrat Kaspar Villiger den Schweizer Aussenminister berät. Doch über das eigene Departement hinaus seien die anderen Regierungsmitglieder besser vernetzt, sagt Longchamp.
Es ist ein Refrain:
«Cassis allein zu Haus» (Tages-Anzeiger, März 2019)
«Cassis allein zu Haus» (Blick, April 2021)
«Cassis auf einsamer Mission» (NZZ, November 2021)
Der Rückzug
Seit der Bundesrat das Rahmenabkommen beerdigt hat, hat sich das akzentuiert. Er habe Brücken zur Politik gekappt, tönt es beinahe unisono aus der Aussenpolitischen Kommission des Parlaments. Leute, die ihn mögen, nehmen ihn heute als «weniger spontan» wahr und «verschlossener». «Er wurde medial hart angegangen, auch unfair», sagt Parteikollegin und Nationalrätin Christa Markwalder dazu.
Andere erzählen, wie er die Fassung verlor, als kritische Fragen ums Europa-Dossier kamen. Es war im Sommer, als die Aussenpolitiker:innen wissen wollten, warum der Bundesrat das Rahmenabkommen mit Europa beerdigt habe, ohne überhaupt das Parlament zu fragen. «Wir sind hier nicht im Bundesgericht!»
Sensibel geworden, habe er aus dem Aussendepartement eine «Wagenburg» gemacht, sagt jemand aus dem linken Lager.
Für Michael Steiner, Mediensprecher von Cassis, ist die Enttäuschung in der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats zumindest nachvollziehbar. Viele Parlamentarier und Parlamentarierinnen hätten sich lang und sehr intensiv mit dem Rahmenabkommen auseinandergesetzt.
«Dann hat es der Bundesrat beerdigt. Das ist ein Bruch. Dieser Entscheid hat der Gesamtbundesrat gefällt, und er hat anschliessend die Aussenpolitischen Kommissionen auch dazu konsultiert», sagt Steiner. Cassis habe nach dem Ende des Rahmenabkommens in der Schweiz und in den EU-Staaten viel Aufklärungsarbeit geleistet. «Dass er sich in eine Wagenburg zurückgezogen haben soll, entspricht nicht der Realität.»
Der Kandidat
Und doch bleibt der Kontrast zu diesem Ausbund an Tessiner Herzlichkeit, damals im Parlament von Bern. Ignazio Cassis arbeitet als FDP-Nationalrat für Krankenkassen und Altersheime, Berufslobbyist, ein Salär von 300’000 Franken. Er nimmt in wichtigen Kommissionen Einsitz, wird Fraktions-Chef der FDP.
Er zeigt hier die Seiten, die ihn 2017 für viele wählbar machen, allen voran: Er ist vielsprachig, der perfekte Vermittler zwischen den Landesteilen, «grundsympathisch» und «jovial», wie Wegbegleiter:innen sagen. Aufgefallen ist zudem ein «starker Intellekt» und eine «beeindruckende Dossiersicherheit.»
2017. Der freiwerdende FDP-Sitz im Bundesrat ist umstritten. Die freisinnige Partei braucht eine Kandidatur, an der alle Angriffe abprallen würden. Die Lösung findet sie in einer Schweizer Tradition, der besonderen Rücksicht auf Minderheiten. Diese Haltung ist das Skelett dieser Willensnation, sie hält das Land zusammen, und seit 18 Jahren hatte die italienische Schweiz keine Vertretung mehr im Bundesrat. Also verteidigt die FDP mit dem Tessiner Cassis ihren Anspruch auf die Regierung. Fulvio Pelli sagt, es sei die Partei, die ihn für die Kandidatur angefragt habe, nicht umgekehrt.
Die Prüfung
Doch da ist ein Manko. Das Parlament in der Schweiz wählt niemanden zum Bundesrat, der nicht in der Privatwirtschaft oder einer Exekutive bewiesen hätte, wie er führen kann. Diesen Beweis tritt Cassis als Fraktionschef seiner Partei an. Er bringt die Parlamentarier:innen der FDP auf Linie. Im Frühling 2017, bei der Diskussion um die Schweizer Rentenreform, führt Cassis, Major der Schweizer Armee, seine Fraktion zu einem entschlossenen Nein.
Es ist seine Meisterprüfung und sie trifft das Prestigeprojekt der Sozialdemokraten, angeführt von SP-Bundesrat Alain Berset. Dessen Rentenreform erleidet Schiffbruch. Der Parteipräsident der SP, Christian Levrat, tobt. Er nimmt sich Ignazio Cassis zum Feind. Will Cassis jetzt noch Bundesrat werden, kann er sich jeden Support von links ans Bein streichen.
Er würde die Stimmen also rechts holen müssen. Er tritt der Schweizer Waffenlobby Pro Tell bei und gibt seine italienische Staatsbürgerschaft ab, ohne Not, wohl aber aus Angst vor Medienberichten, wie im Tessin vermutet wird. Pro Tell wird er gleich wieder verlassen.
Die Fallen
Zudem dient er sich der Fraktion der Schweizerischen Volkspartei an und verspricht den Europagegnern ein umfassendes Besänftigungsprogramm. «Kein Rahmenabkommen mit der EU, keine automatische Rechtsanpassung, keine fremden Richter. Das waren seine Aussagen», sagt der damalige SVP-Präsident Albert Rösti.
Bevor er Bundesrat wird, sind die Fallen also gestellt.
Die Blitz-Mitgliedschaft bei der Waffenlobby und die Absage an seine Herkunft bringen ihm den Ruf eines Opportunisten, den kriegt er nie mehr weg. Der einstige Konsenspolitiker hat sich zudem mit den Sozialdemokrat:innen nachhaltig überworfen.. Er hat sich tief nach rechts verneigt, verliert damit die Mitte. Und: Er wird bei den kommenden Wiederwahlen auf die Unterstützung der SVP angewiesen sein.
Der Bruch
In welchem Mass er sich damit zur Geisel der SVP macht, zeigt sich ein Jahr später, 2018. Als neue Bundesrätin stösst Karin Keller-Sutter in die Landesregierung, Parteikollegin, wie Cassis von der FDP. Sie möchte das freigewordene Wirtschaftsdepartement. Dieses Departement will aber auch Guy Parmelin von der SVP – und beide wollen es um jeden Preis.
Der Streit um den Posten ist auch ein Stellvertreter-Krieg zwischen SVP und FDP. Das Wirtschaftsdepartement ist die klassische Domäne des Freisinns. Im neu formierten Bundesrat muss, ungewöhnlich genug, darüber abgestimmt werden. Und da: Cassis stimmt für die SVP, gegen die eigene Parteikollegin.
Der Treuebruch an seiner Parteikollegin führt zu einem tiefen Zerwürfnis, das bis heute wirkt. Karin Keller-Sutter, so erzählen zwei Personen aus ihrem Umfeld unabhängig voneinander, unternimmt inzwischen längst nicht mehr jede Anstrengung, ihre persönliche Meinung über Ignazio Cassis zu verbergen.
«Er hat es genommen»
November 2017, Ignazio Cassis betritt das Aussenministerium. In der Rückblende wirkt diese Departementsverteilung wie der Auftakt zu einer Verwechslungskomödie. Der ausgebildete Diplomat Alain Berset macht die Pandemie. Der Facharzt Public Health macht Europa. Vorhang auf.
Wie kam das? Cassis hätte alle notwendigen Kenntnisse für das Innenministerium, aber die Sozialdemokrat:innen wollen den liberalen Rechten nicht an die Sozialwerke lassen – und sie wollen das Aussendepartement auf keinen Fall. Der Gestaltungsspielraum im Schweizer Aussendepartement ist begrenzt. Es ist kein Ministerium, das Parlament und Volk mit neuen Ideen beschäftigt, Entwicklungshilfe und Diplomatie sind langfristige Schienen. «Aussenpolitik ist in der Schweiz nicht beliebt», sagt Fulvio Pelli. «Niemand will das Aussendepartement. Er hat es genommen.» Kommt dazu: Wie im Verteidigungsdepartement herrscht im EDA ein ausgeprägter Korpsgeist. Offiziere und Diplomat:innen funktionieren anders als Beamt:innen, sie folgen eigenen Regeln.
Freund Israels
Cassis erkennt das rasch und holt sich als Generalsekretär den Ex-Chef des Schweizer Geheimdienstes, Markus Seiler: schlau, ein Taktiker, Führungserfahrung.
Es gibt im Aussendepartement der Schweiz laut sehr unterschiedlichen Quellen eine Konfliktlinie in Bezug auf eine Gretchenfrage der Diplomatie: Wie hältst du es mit dem Nahen Osten? Die Positionierung gegenüber der Nahostfrage – verkürzt: Pro Palästina versus Pro Israel – ist auch eine Linie, die dem Links-Rechts-Schema folgt.
Seiler, liberal, FDP, gilt als ausgeprägter Freund Israels, wie Cassis. Seine Berufung und die neue Israelfreundlichkeit im EDA wird dessen (Personal-)Politik in den kommenden Jahren prägen. Sie wird auch zu heftigen Angriffen auf Cassis führen, ausgetragen hauptsächlich über die Presse. Wer Cassis› Linie teilt, lobt ihn gerade in dieser Hinsicht für Mut und Standhaftigkeit. Wer sie nicht teilt, wird in den nächsten Jahren Anlässe finden, die Presse mit Stoff für negative Schlagzeilen zu beliefern.
Als fatal an der Berufung Seilers sehen zahlreiche Auskunftspersonen etwas anderes: Er komme nicht aus der Diplomatie. Ein Diplomat hätte von Berufs wegen das Persuasive mitgebracht, um Allianzen in andere Departemente aufzubauen, heisst es. Und um Ignazio Cassis› Pläne nach innen tragen zu können, dazu habe Seiler für die Diplomaten den falschen Stallgeruch gehabt.
Es rächt sich. Cassis will in seinem Departement den «Herdentrieb brechen», der einer «bestimmten Weltanschauung» folgt, wie er in einem Weltwoche-Interview sagt. «Er wollte der linken Ära Calmy-Rey ein Ende setzen», sagt Fulvio Pelli. Ein Teil des diplomatische Korps begehrt auf. Es kommt zu Lecks, dann zu Lärm: Im EDA herrsche heimlich ein «Rasputin», schreibt ein Ex-Diplomat, und sein Name sei Markus Seiler. Cassis muss durchgreifen. Versetzungen, er schliesst die Reihen: Es ist wohl der Anfang dessen, was heute als «Wagenburg» beschrieben wird.
Switzerland first
Viel früher aber rächt sich für den neugewählten Cassis sein Zerwürfnis mit Christian Levrat, dem Präsidenten der Sozialdemokraten. Nach einem ersten Gehversuch auf internationalem Parkett – ein Treffen mit dem EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – bezeichnet Levrat Bundesrat Cassis als «Praktikanten». Cassis bedient Levrat und eine rasch wachsende Schar von Kritiker:innen mit einer Serie von Fehltritten. Er äussert sich undiplomatisch zur Rolle des Palästinenserhilfswerks UNRWA im Nahostkonflikt, aus einer Mine in Sambia twittert er PR-Nachrichten für den Rohstoff-Konzern Glencore.
Zudem macht sich Cassis daran, die Aussenpolitik der Schweiz zu einer Art Aussenwirtschaftspolitik umzubauen. «Er hat sie mehr mit den Bedürfnissen der Wirtschaft und der Migrationspolitik verzahnt», bilanziert Diplomatie-Dozent Paul Widmer dazu.
Switzerland first.
Der Sonntagsblick fragt: «Stehen Sie weiter rechts als gedacht?»
Ignazio Cassis antwortet: «Nein. Man wusste, wer ich bin. Darum hat die Linke mich nicht gewählt.»
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Der Moderator
Von Beginn an arbeitet Cassis auch motiviert auf einen raschen Abschluss der Verhandlungen mit Brüssel hin. Er holt einen neuen Chef-Unterhändler, doch auch er selbst führt den direkten Dialog. Sein Brüsseler Gegenüber ist EU-Kommissar Johannes Hahn, ein erprobter Diplomat. Die beiden treffen sich oft, telefonieren viel. Cassis lädt Hahn ins Tessin ein. Auf Twitter nennen sie sich bald «Freund». Nach einem halben Jahr im Amt ist er für Johannes Hahn «Ignazio».
Der Job eines Lobbyisten ist Beziehungsarbeit, Gelegenheiten und Ausgangslagen zu schaffen, um seine Interessen einzubringen. Und: «Er war immer Konsenspolitiker, der Einigkeit schaffte», sagt Fulvio Pelli. Beides, Beziehung und Konsenssuche, das macht Cassis in diesen Gesprächen aus.
Auch nach aussen, gegenüber der Schweizer Öffentlichkeit, schickt er sich in die Rolle eines Moderators, man darf gar sagen: Mediators. Er hört die Bedürfnisse und makelt zwischen den unterschiedlichen Interessen der Schweiz und der EU. «Aussenpolitik ist Innenpolitik», erklärt er. Seine eigentliche Stärke wird jetzt zur Schwäche. Wer moderiert und gleichzeitig auch eine Position vertritt, gerät auf Dauer in einen Zielkonflikt – es ist letztlich eine Frage der Verortung.
In einem geradezu prototypischen Moderatoren-Duktus sagt er im Juni 2018, beim Streit um die flankierenden Massnahmen müssten «die EU wie die Schweiz bereit sein, über ihren eigenen Schatten zu springen».
Die Aussage gilt als Markstein in der langen Geschichte des Rahmenabkommens. Cassis rückt ein Antasten des Schweizer Lohnschutzes in den Bereich des Möglichen und ritzt eine rote Linie. Die Gewerkschaften sind wütend. Die Linke wechselt ins Lager der Gegner. Damit setzte Cassis «jene Dynamik in Gang, an deren Ende der Verhandlungsabbruch mit der EU stand», schrieb der Tages-Anzeiger in einer Analyse.
Irritationen
Wie gross ist also sein Anteil daran, dass die Schweiz mit Europa kein Abkommen zustande brachte? Alle, mit denen wir sprachen, sind sich insgesamt einig: Es gibt eine Mitverantwortung, aber am Ende war er einer von sieben Bundesräten. «Es wäre möglich gewesen, in einer anderen Konstellation», sagt Elisabeth Schneider-Schneiter von der Mitte. Heisst konkret? «Wenn Karin Keller-Sutter damals das Wirtschaftsdepartement hätte übernehmen können, hätte er sie wohl für das Rahmenabkommen im Boot gehabt.»
Einige Irritationen in Brüssel gehen indes direkt auf Cassis› Konto, auch die grösste. Am 23. November 2018 sucht Brüssel den Abschluss. Cassis trifft den EU-Kommissar Johannes Hahn diskret in Zürich. Wieder agiert er als Chefunterhändler. Die Delegation aus Brüssel setzt Druck auf. Felix E. Müller, Autor des Buchs «Kleine Geschichte des Rahmenabkommens» beschreibt das Treffen in der NZZ: «Hahns Team telefonierte immer wieder mit Brüssel, um sich abzusichern. Die Schweizer Seite tat dies nicht, woraus die EU-Diplomaten schlossen, die Positionen, die Cassis vertrat, seien mit der Regierung abgesprochen.»
Dann – Verblüffung! – legt die EU-Delegation den Schweizern einen fertig formulierten Rahmenvertrag vor. Mit den Formulierungen darin sind nicht alle von der Schweizer Delegation einverstanden. «Doch sie hatten keine Chance, ihre Vorbehalte vorzubringen, weil sie von Cassis nicht gefragt wurden», schreibt Felix E. Müller. Cassis, der Unterhändler «ohne Erfahrung auf dem diplomatischen Parkett», sei «dem Powerplay aus Brüssel nicht gewachsen gewesen.»
Die Bilanz
Danach ist Eiszeit. Weder links noch rechts wagt den nächsten Zug, weder Brüssel noch Bern. Cassis nutzt die Zeit, um bei der Entwicklungshilfe mit einem 11 Milliarden-Paket neue Akzente zu setzen. Und in der Aussenpolitik gibt er Prioritäten vor, China und der Nahe Osten. Das alles bringt er problemlos durchs Parlament. Zudem baut er das Aussennetz der Schweiz wieder aus. Er betreibt eine insgesamt klar definierte Aussenpolitik grundliberaler Prägung, begleitet von anhaltender Kritik.
Gemessen wird Cassis heute aber an der Schweizer Schicksalsfrage, dem Europa-Dossier, in der wenig zu gewinnen war. Darum – und weil seine Vorschläge dazu im Bundesrat immer weniger Gehör finden, wird er diese Baustelle in seinem Präsidialjahr wohl gerne andern überlassen.
Neues Potenzial
Und sich Erfreulicherem zuwenden, Präsenz im Inland. Wieder wackelt der Sitz seiner Partei im Bundesrat, nun mehr als je zuvor: Es geht um sein Amt. Cassis zeigt sich jetzt offener, linken Anliegen zugänglicher. Mit China sucht er den Dialog über Menschenrechte und ganz allgemein den Multilateralismus: Internationales Genf, digitale Diplomatie, ein Wassergipfel in Afrika. Neue Schwerpunkte der Schweizer Aussenpolitik sieht er in Südostasien, aber auch den USA. Praktisch gesetzt ist bereits ein Sitz der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat und vielleicht gibts eine Mediation in der Ukraine-Krise: Das alles hat Strahlkraft – und das Potenzial, Sympathien bei Mitte-Links zurückzuholen. Die bösen Zungen sagen jetzt, Cassis sei zurück im Wahlkampf. Der Wandelbare, das hat sich festgesetzt.
Cassis› Medienchef Michael Steiner antwortet darauf: «Er lebt, was die Politik der Schweiz ausmacht, den Kompromiss.» Ein Mann wie sein Land.
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