Kinderlose Alte fallen durch die Maschen
Das Schweizer Pflegesystem baut darauf auf, dass Kinder ihre betagten Eltern betreuen. Aber was ist mit den Kinderlosen?
Walter Schütz* hätte sich Kinder gewünscht, seine Frau wollte keine. Vor fünf Jahren ist sie gestorben. Jetzt ist er 80 und alleine.
«Einsam bin ich nicht», betont er. Er habe einen grossen Freundeskreis, den er aktiv pflege. «Von meinen Altersgenossen sitzen etliche daheim und warten, bis sich jemand meldet.» Er mache das anders, sagt er. «Seit einem Jahr treffe ich mich oft mit einer jungen Freundin, die noch keine 40 ist», sagt er und kann ein verlegenes Lachen nicht verkneifen.
So wie er geht es in der Schweiz schätzungsweise rund 150’000 Menschen. Sie sind betagt und haben keine nahen Angehörigen, die sich um sie kümmern könnten.
«Viele haben keine Kinder»
In den nächsten Jahren werde diese Zahl deutlich steigen, sagt Carlo Knöpfel, Professor an der Hochschule für soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). «Viele ältere Leute, welche heute noch nicht betreuungsbedürftig sind, sind ohne Kinder unterwegs», so Knöpfel.
Das kann auch bedeuten, dass die eigenen Kinder weit weg wohnen. Während es früher oft normal war, dass die Kinder in der gleichen Region wie die Eltern lebten, ist das heute anders.
Das Pflege- und Betreuungssystem der Schweiz baut darauf auf, dass sich Kinder um ihre betagten Eltern kümmern. Medizinische Pflege ist zwar von der Krankenkasse gedeckt – alles darüber hinaus müssen in der Regel Angehörige leisten.
Dabei gehe es um alltägliche Sachen, sagt Carlo Knöpfel: «Wer unterstützt mich beim Einkaufen, wer begleitet mich auf ein Amt, wer hilft mir mit den Finanzen? Wer hört mir zu, wenn es mir mal nicht so gut geht? Oder wer schaut zu meinem Hund, wenn ich ins Spital gehen muss?»
Dass man von heute auf morgen auf Unterstützung angewiesen sein kann, hat Patricia Schnyder kürzlich erfahren. Die 71-Jährige ist seit zehn Jahren verwitwet, Kinder hat sie keine.
Nach einem Sturz von der Leiter konnte sie ihr Bein während neun Wochen nicht belasten, war am Anfang sogar im Rollstuhl. Patricia Schnyder musste sich eine professionelle Haushaltshilfe organisieren. Für die letzten zwei Wochen ihrer Schonfrist hat sie ihr Umfeld aktiviert.
Verschiedene Bekannte kamen zu Besuch, halfen beim Einkaufen, im Garten oder tranken Kaffee mit ihr. «Diese Aktion ist sehr gut angekommen. Meine klare Anfrage erleichterte es vielen, mich zu unterstützen», so Patricia Schnyder.
Studie über alte Menschen ohne Kinder
Erstmals wurde in der Schweiz untersucht, wie es älteren Menschen geht, die nicht auf familiäre Unterstützung zählen können. Carlo Knöpfel von der FHNW hat mit seinem Team 30 Betroffene aus der ganzen Schweiz befragt. Dank der Auswertung liegen nun detaillierte Einblicke in die Lebensrealität älterer Menschen ohne betreuende Angehörige vor.
Die Frage nach externer Unterstützung ist häufig auch eine Frage des Geldes. «Da gibt es eine grosse Ungleichheit. Vulnerable ältere Menschen mit wenig Geld haben heute Schwierigkeiten, sich entsprechende Hilfe und Betreuung zu leisten», sagt Carlo Knöpfel.
Ein weiterer Grund, warum ältere Menschen keine Unterstützung erhalten, ist, dass sie gar nicht über das Hilfsangebot informiert sind. Darum müsste hier viel mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden, sagt Carlo Knöpfel. Aufsuchende Sozialarbeit werde künftig auch bei älteren Menschen vermehrt nötig, sagt Carlo Knöpfel.
Patricia Schnyder ist noch nicht auf Hilfe angewiesen. Schaut die 71-Jährige aber in die Zukunft, sind einige Fragen ungeklärt. «Zum Beispiel beim Thema Finanzen wäre es schön, wenn ein Sohn oder eine Tochter da wäre, die das einmal für mich übernehmen könnte.»
Sie ist sich bewusst, dass sie ihr weiteres Leben wohl früher als andere regeln und organisieren muss. «Ich muss eine Institution aufsuchen oder Hilfe holen, bevor ich nicht mehr klar bin.»
Leise Befürchtungen
Auch Walter Schütz weiss, dass es schnell gehen kann. Vor fünf Jahren war seine Frau wegen eines Hirntumors nach kurzer Zeit nicht mehr selbstständig. Er musste seine Frau praktisch rund um die Uhr betreuen.
Als es nicht mehr ging, kam sie ins Spital, später in ein Heim. Kurz darauf ist sie gestorben. Das alles stimmt Walter Schütz nachdenklich. Er überlege sich in letzter Zeit öfters, ob er sich eine kleinere, altersgerechte Wohnung suchen sollte. Doch der Gedanke, bereits jetzt etwas zu verändern, löst bei dem 80-Jährigen auch Ängste aus.
Auf Bundesebene ist ein Gesetzesentwurf in der Vernehmlassung, der Ergänzungsleistungen für betreutes Wohnen vorsieht. So sollen Menschen mit wenig Geld vermehrt Zugang zu solchen Angeboten erhalten. «Das Problem ist erkannt», sagt Knöpfel.
Die Studie und unsere Beispiele zeigen: Ein funktionierendes soziales Netzwerk ist von zentraler Bedeutung.
Carlo Knöpfel warnt jedoch davor, dass es sich bei diesen sozialen Netzwerken meist um Menschen in ähnlichen Lebenssituationen und ähnlichem Alter handelt. «Die Belastbarkeit eines solchen sozialen Netzes hat klare Grenzen. Darum braucht es auch professionelle Angebote.»
Die Ersatztochter
Der 80-jährige Walter Schütz sieht das anders. Er sei genügend vernetzt: «Ich habe viele Bekannte oder eben meine junge Freundin.»
Diese Freundin hat Walter Schütz im Gespräch mehrmals erwähnt. Darum die Frage: Ist das eine Freundin, oder eine Ersatztochter? Walter Schütz überlegt geschlagene acht Sekunden. Er holt Luft: «Vielleicht beides.»
*Auf Wunsch der Person hat die Redaktion den Namen geändert.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch