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L’Identitätskrise n’existe pas

Markus Somm

Markus Somm, Historiker und Verleger der Zeitschrift Nebelspalter, schreibt in seinem Gastbeitrag, die Schweiz, ein Land ohne gemeinsame Kultur, Sprache, Religion oder natürliche Grenzen, bestehe gerade daraus: dass sie kaum je zu definieren war.

Wann immer sich Journalisten (und manchmal auch Historiker) wichtig machen wollen, reden sie gerne von der Identitätskrise unseres Landes. Das klingt erhaben, das klingt seriös, das wirkt intelligent – weswegen ich in meinem inzwischen 25-jährigen Journalistenleben sicher ebenso oft darübergeschrieben habe: Man jammert, man klagt an, man prognostiziert den baldigen Untergang – und das seit hundert Jahren.

Weil sich dieser Untergang aber nie eingestellt hat, frage ich mich, ob die Journalisten und Historiker vielleicht nicht eher über sich selbst schreiben? Sind wir – im weitesten Sinne: Intellektuelle – nicht die einzigen, die nie so genau wissen, wer wir sind?

Wenn wir ehrlich sind, glaubt doch kein Mensch, dass die Gymnasiallehrerin in Romanshorn, der Coiffeur in Nyon oder der Landmaschinenmechaniker in Stampa GR sich je im Unklaren sind, was die Schweiz ist und was sie denn soll: Sie ist ein Land, das Erfolg hat, weswegen hier auch regelmässig Einkommen bezogen werden.

Die Schweiz im Image-Tief

Der Beinahe-Kollaps der Traditionsbank Credit Suisse hat für ein finanzpolitisches Erdbeben gesorgt, das weit über die Schweizer Grenzen hinaus Schlagzeilen gemacht hat. Obwohl das Krisenmanagement der Regierung im Ausland überwiegend positiv aufgenommen wurde, hat die Reputation des Schweizer Finanzplatzes arg gelitten – und mit ihr das gesamte Image der Schweiz. Ein Image, um das es nicht zum Besten steht.

Bereits länger sieht sich das Land mit Kritik konfrontiert: Seit der russischen Invasion in der Ukraine ist die helvetische Neutralität international umstritten. Für Russland ist die Schweiz nicht mehr neutral, die westlichen Partner sehen das Abseitsstehen der Schweiz als opportunistisch und werfen ihr vor, der Ukraine zu schaden.

Die von den Schweizer Behörden untersagte Wiederausfuhr von Kriegsgerät an das angegriffene Land mehrt Zweifel, dass die Schweiz überhaupt noch ein zuverlässiger Verbündeter ist. Die Kritik schliesst auch die Sanktionen gegenüber russischen Oligarchen ein, in den Augen vieler internationaler Beobachter:innen geht die Schweiz nicht weit genug.

Neutralität, Bankenplatz, Sanktionspolitik: Die Fragen betreffen nichts weniger als die Identität des Landes. Wir haben verschiedene Schweizer Persönlichkeiten angefragt, wie sie das Renommee der Schweiz in der Welt beurteilen und was jetzt nötig wäre.

Sie ist ein Land, wo die Züge so pünktlich eintreffen wie die Steuerrechnungen. Es ist ein Staat, wo niemand ins Gefängnis gesperrt wird, weil er etwa behaupten würde: «La Suisse n’existe pas», wie das der Künstler Ben Vautier 1992 an der Weltausstellung von Sevilla mit einem Kunstwerk getan hat, das allein aus diesem Satz in krakliger Handschrift bestand.

Wenn ein Gemälde die Schweiz je bekannt gemacht hat, dann vielleicht dieses, das ihre Existenz bestritt. Warum wohl? Weil alle kicherten ein wenig, alle ahnten, der Mann übertreibt nicht bloss, sondern erzählt Unsinn. Und das erschien liebenswürdig. Als hätte er behauptet, die Erde sei flach, wurde er bewundert für den Mut, sich als Irrsinniger auszugeben in einem Irrenhaus, wo die Wärter sich für Schweizer hielten.

Einstürzende Welten, bewegungslose Schweiz

Natürlich ging es dem Künstler um mehr – und manche schlecht gelaunten Politiker auf der bürgerlichen Seite taten ihm den Gefallen, ihn ernster zu nehmen als nötig. Womöglich lag es daran, dass sich damals manche von ihnen etwas unwohl fühlten in Anbetracht der angeblich einstürzenden Gewissheiten, wie etwa konkret: dem Untergang der Sowjetunion und dem Fall der Berliner Mauer.

Steckt die Schweiz in einer Imagekrise? Lesen Sie dazu auch den Meinungsbeitrag des Rechtswissenschaftlers Mark Pieth:

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Die Schweiz neu erfinden

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Umstrittene Neutralität, desavouierter Finanzplatz, fehlende politische Visionen: Gleich mehrere Pfeiler des helvetischen Selbstverständnisses wanken. Die Schweiz muss grundsätzlich über die Bücher, schreibt Mark Pieth.

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Aber hatten diese Ereignisse so viel mit der Schweiz zu tun? Natürlich nicht. Sie war unbestritten – was bestritten wurde, war die Hegemonie der Bürgerlichen, und es gelang der Linken, diese so sehr zu verunsichern, dass sie freiwillig ein wenig Macht abgaben, auch hier wohl mehr, als nötig gewesen wäre. Aus lauter Angst vor dem Tod brachten sie sich selber um.

Heute versuchen der eine Journalist oder andere Politiker, uns von neuem einzureden, wir wüssten nicht, was dieses Land ausmache und wohin es sich entwickeln sollte, dabei tarnen sie mit ihrem Identitätsquark meistens nur die Frage, die sie selbst nicht loslässt: Wie bringen wir die Schweizer dazu, sich der EU anzuschliessen?

Einem Anliegen, das wiederum eher mit ihrem eigenen Identitätsproblem zu tun hat als mit der Befindlichkeit der meisten Bürger in diesem Land. Es handelt sich um ein Leiden der Eliten – einem selbstgewählten, an dem sie gerne leiden, zumal es ihnen eine neue Aufgabe verschafft, für die sie sich besonders befähigt fühlen. Was ist die Schweiz? Quo vadis, Helvetia? Hochtrabende, abstrakte Sorgen – andere Leute müssen am Morgen früh raus. Es ist eine Ersatzideologie für politische Unternehmer – wozu grob gesagt Publizisten, Geisteswissenschaftler und ein Teil der Politiker zählen.

Vorwärts in die Vergangenheit

Als der Sozialismus zusammenbrach, war es nämlich in erster Linie die Linke, die ein Problem hatte, zumal es vorerst schien, als wäre jede linke Utopie nun in Rauch aufgegangen. Was hatten sie die Revolution eben doch geliebt – wenn auch in der ewigen Möglichkeitsform. Das europäische Projekt kam da vielen nachdenklichen Linken wie gerufen, es bot eine neue geistige Heimat für heimatlose Geister.

Auch ein Teil der Bürgerlichen sah sich depriviert – und ermuntert zugleich. Wenn sich hier nun europhile Kräfte stärker bemerkbar machten, dann lag es nur scheinbar an der offenen Gegenwart, tatsächlich arbeitete man sich an der Vergangenheit ab: In der CVP litt man schon länger unter dem Muskelschwund des eigenen Wahlkörpers, seit das katholische Milieu Jahr für Jahr schrumpfte, als ob Gott die Gläubigen für immer verlassen hätte.

So gesehen war eine neue Doktrin in diesen Kreisen sehr willkommen, und wenn es obendrein eine war wie der Beitritt zur EU, dann umso mehr: War die EU nicht immer auch ein katholisches, nämlich supranationales Projekt gewesen?

«Römer Verträge», eine Flagge, die vom Sternenkranz der Gottesmutter Maria inspiriert war (zwölf goldene Sterne): Das konnte keinen Römisch-Katholiken unberührt lassen. Mit anderen Worten, man gab sich eine neue Aufgabe, die der alten nicht ganz unverwandt war: Es galt das Katholische in der Politik zu bewahren.

Im Freisinn schliesslich der torkelte wie ein Boxkämpfer, der alle Runden gewonnen hatte und dennoch sich wie K.O. fühlte, stieg eine internationalistische Minderheit zum Mainstream auf. Leuten, die im alten Freisinn wenig zu sagen hatten, schien plötzlich die Zukunft zu gehören. Und so erlag auch die FDP der Chimäre einer neuen Zeit, die nicht zu haben war, ohne dass man die Schweiz darstellte, als wäre sie aus den Fugen geraten, als wüssten ihre Bürger nicht mehr, wo ihnen der Pass stand.

Eingebildete Krankheiten

Selbstverständlich war das damals Unfug – und ist es noch heute. Gewiss, aussenpolitische Herausforderungen geben nach wie vor zu reden, was ist die richtige Äquidistanz zur Europäischen Union? Wie verhalten wir uns, wenn in Europa neuerdings wieder ein Krieg tobt? Welche Neutralität wollen wir – welche wollen die Grossmächte?

Steckt die Schweiz in einer Imagekrise? Ex-Botschafter Martin Dahinden verneint in seinem Gastbeitrag und verweist auf Umfagewerte:

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Aber das sind keine neuen Fragen, sondern Standardrätsel seit Jahrhunderten, die unsere Existenz weder bedrohen noch unsere Identität unter Druck setzen. Im Gegenteil, die Schweiz, ein Land ohne gemeinsame Kultur, Sprache, Religion oder natürliche Grenzen, besteht gerade daraus: dass sie kaum je zu definieren war. Man fühlt sich als Schweizer – und weiss nicht warum.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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