Der Tourismus zieht Lehren aus dem Lockdown – die richtigen?
Die Pioniere ziehen wieder los, die Schwärme folgen. Während einige Reisedestinationen froh sind, wenigstens zeitweilig den "Overtourism" losgeworden zu sein, betteln viele wieder um Touristinnen und Touristen.
Noch hatte die Schweiz die Grenzen zu Italien nicht geöffnet. Italien hingegen verkündete unerwartet die freie Einreise für Personen aus der Schweiz ab dem 3. Juni. Einen Tag später standen Sylvain und Anastasia Nicolier aus Lausanne auch schon am Grenzübergang Grosser Sankt Bernhard.
«Am Vorabend hatte ich die Nachricht der Grenzöffnung gesehen und meine Frau gefragt, ob wir nach Venedig wollen. Am nächsten Tag fuhren wir mit unserer zweimonatigen Tochter los», sagt Sylvain Nicolier. Die Einreise verlief problemlos, keine Kontrolle. «Zuerst hatte ich ein mulmiges Gefühl», sagt Anastasia. «Es war unsere erste Reise ins Ausland mit einem Baby.»
Das Reisen sind sich die frischen Eltern aber gewohnt: Sylvain Nicolier ist Reiseblogger und veröffentlicht auf seiner Website sowie auf Social Media unter dem Namen «Suisse moiExterner Link» Videos aus der ganzen Welt, seine Frau unterstützt ihn dabei.
In Venedig war er bereits vier Mal, doch die Touristenmassen hatten ihn so gestört, dass er lange Zeit wenig Lust hatte, mit seiner Frau dorthin zu reisen. Für sie hingegen war Venedig schon seit langem eine Traumdestination.
«Jetzt war der richtige Zeitpunkt!», sagen die beiden. Die Bilder der wegen der Corona-Krise leergefegten Strassen und Gassen Venedigs gingen um die Welt.
Massnahmen gegen die Masse
Vor der Corona-Krise zählte Venedig zwischen 26 und 30 Millionen Besuchende pro Jahr, zu Spitzenzeiten waren bis zu 130’000 Touristinnen und Touristen täglich in der Lagunenstadt unterwegs. Eindeutig zu viel, fand die Stadtbevölkerung, und protestierte gegen die hohen Besucherzahlen. Von sogenanntem «Overtoursim» ist die Rede: Venedig konnte die Masse nicht mehr bewältigen; kaum ein Durchkommen auf den Strassen, immer höher werdende Mieten, mehr Souvenirläden als Geschäfte für Anwohner.
Die Stadt hat reagiert. Nun sollen Tagestouristen Eintrittsgeld bezahlen, und auch die Anzahl anlegender Kreuzfahrtschiffe soll verkleinert werden. Sylvain Nicolier findet diese Massnahmen gut: «Es ist wichtig, dass wir uns über nachhaltigen und verantwortlichen Tourismus Gedanken machen», sagt der Reiseblogger. Grundsätzlich verteufeln könne man den Tourismus aber nicht: «An vielen Orten profitiert die lokale Bevölkerung davon.»
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Wirtschaftsträger Tourismus
Wirtschaftlich hat der Tourismus in der Tat eine hohe Bedeutung für Venedig, gar für das ganze Land: Mehr als 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts macht er aus. Wie wichtig der Tourismus für Italien ist, hat auch die schnelle Grenzöffnung Anfang Juni gezeigt.
Diese erfolgte entgegen der Bedenken der Gesundheitsbehörde und ohne Rücksprache mit den angrenzenden Ländern. Die Regierung gab damit dem Druck der Wirtschaftsverbände nach. Etliche Städte finanzieren ihr Budget zu einem erheblichen Teil über die Kurtaxe, die jeder Gast zusätzlich zur Übernachtung zu zahlen hat.
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«Die Alpen sind eine Industrielandschaft»
«Ich glaube, die Bevölkerung ist sich bewusst geworden, wie wichtig der Tourismus ist, als die ausländischen Reisenden ausblieben», sagt Anastasia Nicolier. Überall seien sie freudig begrüsst worden, die Stimmung sei gut gewesen.
Touristenmagnet Luzern
Auch in der Schweiz kommen Städte an die Grenze. Luzern, der Schweizer Touristenmagnet schlechthin, verzeichnet jährlich 9,4 Millionen Besuchende. Doch auch hier sind die Anwohnerinnen und Anwohner unzufrieden: Eine Anfang Juni publizierte repräsentative Studie der Hochschule LuzernExterner Link besagt, dass fast 80 Prozent der 1530 befragten Personen die akzeptable Anzahl der Touristen in der Altstadt bereits heute für überschritten hält.
Die Massen an Gästen führten zu mehr Staus und zu Parkplatzproblemen. Grosse, asiatische Reisegruppen werden als besonders störend empfunden. Die Umfrage wurde im Februar abgeschlossen, kurz vor dem ersten Corona-Fall in der Schweiz.
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«Ich meide Orte, wo der Niqab verboten ist»
«Gleichzeitig ist man sich in Luzern aber der wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus bewusst», sagt Studienleiter Jürg Stettler, Leiter des Instituts für Tourismuswirtschaft an der Hochschule Luzern: Rund drei Viertel der Befragten stimmten der Aussage zu, dass der Tourismus Arbeitsplätze schafft, und rund ein Drittel ist der Meinung, dass der Tourismus zu Umsatz und Wertschöpfung bei einer Vielzahl von Unternehmen führt.
Dennoch: Es besteht Handlungsbedarf zur Lenkung und Regulierung des Tourismus, das sieht auch die Mehrheit der Befragten so. Die grösste Unterstützung finden Massnahmen zur Steuerung des Cartourismus über die Anzahl und Standorte sowie über Gebühren der Carparkplätze. Der Stadtrat will nun den Fremdenverkehr stärker regulieren.
Investitionen in Infrastruktur
Ein weiterer Tourismus-Hotspot in der Schweiz ist das Jungfraujoch. Jährlich fahren über eine Million Personen auf den höchstgelegenen Bahnhof Europas. Heute sei die Situation dort viel besser als früher, sagt Hotelier Otto Hauser: «Vor ein paar Jahren herrschte absolutes Chaos.»
Er kennt den Tourismus in der Region gut, ihm gehört das 5-Sterne-Hotel Schweizerhof in Grindelwald, einem beliebten Ausgangspunkt für das Jungfraujoch. 60 bis 70 Prozent seiner Gäste würden diesen Ausflug in der Hochsaison unternehmen – insbesondere asiatische Gruppen.
«Gab es früher kaum Platz dort oben, so kollidieren die Touristenströme heute nicht mehr», sagt Hauser. Schon 2009 wurde die Zahl der Jungfraujoch-Besucher auf 5250 Personen pro Tag limitiert. Ab kommender Wintersaison soll nun auch die Zahl der Skifahrer begrenzt werden.
Gleichzeitig wird weiter ausgebaut: Mit dem 470-Millionen-Projekt «V-Bahn» werden neue Gondelbahnen und ein neuer Bahnterminal geschaffen, um die Fahrzeit auf das Jungfraujoch zu verkürzen. Für Hauser eine gute Lösung, die zeigt, dass Investitionen nötig sind: «Regulierungen sind die Früchte jahrelanger Arbeit, man kann Touristen nicht von heute auf morgen lenken.»
Grenzen der Lenkbarkeit
Jürg Stettler von der Hochschule Luzern fügt an: «Regulierungen sind allerdings kein Patentrezept. In Luzern funktionieren sie nur bei Gruppenreisen. Die Individualtouristen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen, kann man kaum lenken.» Die Studie zeige aber, dass sich die Einwohner kaum an Individualreisenden stören.
Sylvain und Anastasia Nicolier reisen für ihren Blog auch lieber individuell. «Um den Touristenmassen zu entkommen, reise ich meistens ausserhalb der Saison. In Bali zum Beispiel war ich während der Regenzeit – und habe die Insel, von der sonst alle immer sagen, sie sei voller Touristen, sehr genossen!», sagt der Blogger.
Gerade die Wirtschaft hofft aber auf eine schnelle Rückkehr der Touristen. Beginnt das Dilemma also wieder von Neuem? «Der Tourismus muss nachhaltiger werden – nicht nur aus der Sichtweise der Reisenden, sondern auch aus Sicht der Wirtschaft», sagt Stettler. Wer nur wenig Zeit in einer Stadt verbringt und vor allem Sehenswürdigkeiten abklappert, bringt der Stadt auch finanziell wenig.
Es brauche einen Wandel in der Vermarktung, sagt Stettler, hin zu einer Förderung von Langzeitaufenthalten: «Wer länger in Luzern bleibt, wird auch nicht die ganze Zeit auf der Kappellbrücke oder vor dem Löwendenkmal verbringen, sondern Ausflüge in die Region machen. Gibt es genügend Angebote, so verteilen sich die Touristen, und es profitieren weitere Branchen.»
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