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Poetry Slam – Zittern um die Kunst der Worte

Frau auf Bühne
Das waren noch Zeiten: Die Schweizer Slam-Poetin Hazel Brugger im Juni 2017 beim "Best of Poetry Slam" in Hamburg. Keystone / A4358/_georg Wendt

Corona hat auch die Bühnenliteratur in der Schweiz zum Erliegen gebracht. Nun wagt sich Poetry Slam wieder zaghaft ans Mikrofon. Marguerite Meyer, Journalistin und Poetry Slammerin, erzählt.

Ich greife nach dem schwarzen Vorhang und beisse mir auf die Unterlippe. Nervös bin ich nicht, aber aufgeregt. Da ist es wieder, das Lampenfieber. Als ich die Bühne mit raschen Schritten betrete, kneife ich kurz die Augen zusammen – das Licht blendet. Als ich beim Mikrofon in der Bühnenmitte ankomme, nehme ich die schemenhaften Gesichter im Publikum wahr. Für einen Augenblick steht alles still, die Luft fühlt sich schwer an und mein Kopf leicht, ich atme kurz ein und setze dann zum ersten Wort an.  

Luftholen nach dem kulturellen Lockdown 

Es ist ein Abend im Juli, im Innenhof eines Museums. Es ist auch mein erster Poetry-Slam-Auftritt seit Anfang März. Corona hat in den vergangenen Monaten auch in der Schweiz das kulturelle Leben lahmgelegt. Auftritte wurden abgesagt, Gagen sind ausgefallen.  

Viele meiner Kolleg*innen haben sich mit Video-Veranstaltungen und Schreibaufträgen über Wasser gehalten, die Ausfallentschädigungen des Bundes waren oft tief. Wer Ersparnisse hatte, hat diese aufgebraucht. Wie viele andere Künstler*innen wurden auch Bühnen-Poet*innen an den Rand ihrer beruflichen Existenz gedrängt. Die Ungewissheit, wie es mit Corona weitergeht, bedeutet auch die Ungewissheit für das Kulturleben. Veranstaltungen mit weniger Publikum, Abstand und womöglich Maske sind vielleicht nötig, fühlen sich aber seltsam an.

Poetry Slam ist eine Form der Bühnenliteratur, Autor*innen tragen ihre literarischen Texte einem Publikum vor, oft in Wettbewerbsform. In den 1980ern in den USA entstanden, gibt es diese Kunstform mittlerweile auf der ganzen Welt, in Europa, Australien, im Nahen Osten, in Afrika.

Es gibt auch Meisterschaften. Ende der 1990er kam Poetry Slam von Deutschland auch in die Schweiz. Hier folgen die Wettbewerbe wenigen Regeln: Die Texte müssen selbst geschrieben sein, es sind keine Verkleidungen erlaubt, es darf nicht mehrheitlich gesungen werden, und es gilt ein Zeitlimit pro Text von rund sechs Minuten.

Die Gewinner*in des Abends wird vom Publikum per Applaus oder mit Jurynoten bestimmt, symbolischer Siegespreis ist traditionellerweise oft eine Flasche Whisky oder etwas anderes, das sich nach der Show gut mit den anderen Teilnehmenden teilen lässt.  

2006 hatte ich meinen ersten (sehr nervösen!) Auftritt, heute trete ich nur noch selten auf, sondern organisiere und moderiere Veranstaltungen und versuche Nachwuchsarbeit mit der neuen Generation Poet*innen zu machen. Losgelassen hat mich der Bühnenzauber nie. In der Schweiz gibt es eine kleine Szene, man kennt sich untereinander. Wir nennen uns deswegen auch liebevoll “Slamily” (wie Slam-Family).

Von den Kellerlokalen in die Schauspielhäuser

Ende der 2000er hat Poetry Slam in der Schweiz einen Professionalisierungs-Sprung erfahren: Fanden die Veranstaltungen erst noch in kleinen Lokalen und engen Kellern statt, nehmen nun auch grosse Schauspielhäuser und Theater das Format noch so gerne ins Programm auf – garantiert es doch volle Häuser und lockt auch ein tendenziell jüngeres Publikum an. Und für die Auftretenden ist Poetry Slam oft ein Ort fürs literarische Ausprobieren und ein Sprungbrett für andere Kunstformen.

Niederschwelliger Zugang zu Literatur 

Es ist ein niederschwelliger Zugang zur Literatur. An Veranstaltungen kann man sich oft spontan melden, wenn man lesen möchte. Durch Schul-Workshops kommen auch immer wieder junge Leute dazu. Manch ein junger Mensch stand in den vergangenen Jahren beim allerersten Auftritt als Nervenbündel auf der Bühne – und kam strahlend wieder runter. Wenn ich merke, dass jemanden das Fieber packt, freue ich mich sehr – und muss schmunzelnd an meinen ersten Auftritt denken, an dem ich dreimal aus dem Text gefallen und mehr schlecht als recht durch meine Minuten auf der Bühne gestolpert bin.  

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Textlich hat man die grösstmögliche Freiheit – man kann Poesie oder Prosa lesen, man kann witzig sein oder ernsthaft oder politisch oder banal, man kann vom Blatt lesen oder frei vortragen. Manchmal finde ich es schade, dass textlich nicht mehr experimentiert wird. Das ist ein Nachteil des Wettbewerbs – man tappt leicht in die Falle, seine Texte so zu schreiben, dass sie dem Publikum gefallen.

Mehr Diversität wäre schön

Manchmal vermisse ich hier auch eine thematische Vielfalt. Vergleicht man die deutschsprachige Szene beispielsweise mit der Szene in den USA oder im frankophonen Raum, geht es dort viel mehr um politische oder gesellschaftliche Themen. In den USA beispielsweise kommen viele Themen aus der afroamerikanischen oder queeren Subkultur. Hierzulande waren Slams lange Jahre weiss, mittelständisch, studiert – und die Auftretenden männlich. 

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Als ich mit Poetry Slam begann, war ich oft die einzige Frau auf der Bühne. Das ändert sich jedoch langsam aber sicher: Seit einigen Jahren gibt es zum Beispiel die “Slam Alphas”, einen länderübergreifenden Verein zur Förderung von Frauen und Mädchen im Poetry Slam. Bei meinen Veranstaltungen versuche ich die Lineups so divers wie möglich zu gestalten – nicht nur der “Fairness” wegen, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass verschiedene Stimmen mit verschiedenen Hintergründen und Blickwinkeln eine spannendere und abwechslungsreichere Show ergeben.

Die “Slamily” darf also durchaus vielfältiger werden. Doch wie jede Familie ist auch diese in manchen Bereichen dysfunktional: Im vergangenen Jahr wurde die deutschsprachige Szene von Vergewaltigungsfällen erschüttert, die Prozesse laufen immer noch. Auch die Kulturszene ist nicht gefeit vor Übergriffen und Machtgefällen. Wir versuchen innerhalb der Szene ein grösseres Bewusstsein zu schaffen, auf ein sicheres Umfeld an Veranstaltungen zu achten – und immer wieder darauf zu beharren.

Gewinnen ist wichtig – und doch nicht 

Manchmal ist diese unsichtbare Arbeit anstrengend. Doch sie lohnt sich: Denn der Zauber des gesprochenen Wortes auf der Bühne ist einmalig. Die schönsten Momente sind für mich immer noch jene, in denen jemand danach mit leuchtenden Augen zu einem kommt und sich für einen Text bedankt – weil er oder sie davon unterhalten oder berührt wurde. Und im schlimmsten Fall ist auch ein schlechter Auftritt sowohl als Poetin als auch fürs Publikum immerhin nach wenigen Minuten vorbei.

Das Erzählen von Geschichten ist eine menschliche Urform der Kommunikation – da reiht sich Poetry Slam in eine Jahrhunderte alte Tradition der Literatur ein. Es gibt gar eine Art internationale Poetry-Gemeinschaft: Ich habe Austausch mit Poet*innen aus Berlin, Chicago und Beirut. Und wenn ich an einem fremden Ort gestrandet bin, weiss ich, dass ich zum nächsten Slam gehen kann und vermutlich willkommen bin. Nun hofft die Szene natürlich, dass das Reisen und Auftreten längerfristig wieder einfacher möglich sind.

Obwohl es beim Poetry-Slam-Wettbewerb natürlich ums Gewinnen, eine hohe Punktzahl oder einen grossen Applaus geht, geht es am Schluss auch irgendwie gar nicht darum. Oder, wie es der US-Poet Allan Wolf sagte: “The points are not the point. The point is poetry.” 

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