Das etwas andere Schweizer Unternehmen
Es ist schon für normale Firmen eine Herausforderung, ihren Angestellten eine interessante Arbeit zu bieten, gleichzeitig die Qualität der Dienstleistungen zu wettbewerbsfähigen Preisen zu garantieren und vereinbarte Fristen einzuhalten. Für die Firma der Stiftung Polyval im Kanton Waadt ist dies aber besonders schwierig: Seit ihrer Gründung beschäftigt sie ausschliesslich Personen mit einer körperlichen, psychischen oder geistigen Behinderung.
Wer durch das grosse Areal des Werks Lausanne-Vernand spaziert, dem erscheint Poyval als eine ganz normale Firma: Einige Arbeiter überwachen sorgfältig den Betrieb von Maschinen, andere montieren Gerätekomponenten oder verpacken Produkte. Und gegen Mittag entleeren sich die Werkstätten eine nach der anderen, und das Personal geht für die Mittagspause in die Kantine.
Doch die Firma Polyval, eine nicht-gewinnorientierte Stiftung, beschäftigt ausschliesslich Personen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung, die psychische oder sensorische Probleme haben und nicht in der Lage wären, im normalen Arbeitsmarkt einen Beruf auszuüben.
«Es sind Empfänger einer Ganz- oder Teilrente der Invalidenversicherung (IV), die in die aktive Welt und damit in die Gesellschaft integriert sein wollen. Auch heute noch spielt die Arbeit in der Schweiz eine sehr wichtige soziale Rolle. Schon nur, weil man auf dem Arbeitsweg und am Arbeitsplatz Kollegen trifft und gemeinsam etwas auf die Beine stellt», sagt Hervé Corger, stellvertretender Direktor von Polyval.
«Schon von Beginn weg war unsere Idee, diesen Personen eine echte Arbeit anzubieten, also eine produktive Arbeit und keine Alibi-Aktivität. Wir geben den Leuten eine nützliche Arbeit, damit sie später auch Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Und ich denke, das Wissen, etwas Nützliches zu tun, ist für viele unserer Mitarbeiter noch wertvoller», so Corger.
Zuliefer-Betrieb
Eine Idee, die Früchte trug, wenn man die Entwicklung der Firma während fast eines halben Jahrhunderts ihrer Existenz betrachtet. Heute verfügt Polyval über sieben Werke im Kanton Waadt, wo rund 450 Angestellte und etwa 70 Praktikanten arbeiten. Sie alle profitieren von beruflichen Eingliederungs-Massnahmen der IV. Weitere rund 100 Personen wirken bei der Arbeit mit, sei es als Sozialarbeiter oder in der Administration.
Die sozial-gewerbliche Firma verfügt heute über ein umfangreiches Netzwerk von regionalen Partnern und mehr als tausend Kunden – von kleinen und mittelgrossen Unternehmen bis zu grossen Multinationalen.
Statt selber Produkte herzustellen, ist Polyval hauptsächlich in der Fertigung für Kunden tätig: Mechanische Arbeiten, Montage von Geräten, Siebdruck oder Kartonagen. Seit einigen Jahren hat die Stiftung ihre Dienstleistungen auf den Dienstleistungssektor ausgedehnt: E-Commerce, computergestützte Datenverarbeitung, Verpackung von Produkten oder Abfüllen von Medikamenten.
«Dass wir in der Zuliefer-Industrie und in so vielen Sektoren tätig sind, erlaubt es uns, ein breites Spektrum an Aktivitäten anzubieten. Eine unserer grössten Herausforderungen ist, unseren Angestellten abwechslungsreiche Aktivitäten anbieten zu können und dabei die verschiedenen Behinderungen, die speziellen ergonomischen Anforderungen und die Kompetenzen zu berücksichtigen», sagt Corger.
Höhere Abwesenheitsrate
Weitere Herausforderungen sind, dass die Produktion an den Arbeitsrhythmus der Mitarbeitenden angepasst werden muss und eine höhere Abwesenheitsrate als in anderen Unternehmen verzeichnet wird.
«Logischerweise sehen wir uns mit Problemen in der Konstanz von Arbeit und Präsenzzeit konfrontiert. Im Fall von körperlichen oder mentalen Behinderungen können wir den Arbeitsplatz anpassen: Der Mitarbeitende kommt langsamer voran, aber genügend stabil. Bei Personen mit psychischen Problemen ist es oftmals schwieriger: An einem Tag fühlt sich ein Mitarbeitender gut, am Tag darauf ist er – aus dem einen oder anderen Grund – nicht in der Lage, seine Arbeit zu machen», sagt Corger.
Eine weitere Schwierigkeit verschärfte sich im gegenwärtigen wirtschaftlichen Umfeld: «Auch unsere Kunden verlangen immer häufiger, dass Dienstleistungen in der vorgeschriebenen Art und Weise und innerhalb der vorgeschriebenen Frist ausgeführt werden. Sie stellen ebenso hohe Anforderungen an uns wie an jedes andere Unternehmen», erzählt der stellvertretende Polyval-Direktor.
«Das ist auch verständlich: Ein Kunde, der bei uns eine Arbeit auslagert, muss ebenfalls Fristen einhalten, um sein Produkt an seine Kunden zu liefern. Hinter jedem Kunden steht fast immer ein weiterer Kunde», so Corger.
Wie viele andere Unternehmen erlebte auch Polyval harte Zeiten, nachdem die Schweizerische Nationalbank 2015 den Euro-Mindestwechselkurs gegenüber dem Schweizer Franken aufgehoben hatte. Viele Kunden hatten sofort Preissenkungen bei den Zuliefer-Produkten verlangt, weshalb sich die soziale Firma gezwungen sah, ihre Margen deutlich zu reduzieren. Auch die Stiftung, deren Budget zu etwa 30% durch den Kanton gedeckt wird, ist den Marktgesetzen ausgesetzt.
Subventionen erhalten und Behinderte einsetzen, da liegt es nicht weit, Polyval des Preisdumpings auf dem regionalen Markt zu verdächtigen. «Man muss bedenken, dass wir für unser Personal im Vergleich mit anderen Firmen eine viel komplexere Infrastruktur sowie zahlreiche Sozialarbeiter brauchen», verteidigt Corger sein Unternehmen.
«Wir bieten unsere Leistungen zu Marktpreisen an, wir ziehen Offerten an Land und verlieren andere. Ich glaube, dass wir heute zuallererst wegen unserer Kompetenz in verschiedenen Bereichen und für die Tatsache geschätzt werden, dass wir ein lokaler und zuverlässiger Partner sind.»
Entspannte Atmosphäre
Doch was motiviert IV-Bezüger, arbeiten zu gehen? «Viele möchten ein wenig mehr Geld zur Verfügung haben, weil die IV-Renten nicht so weit reichen, wie viele glauben. Andere möchten einfach aktiv sein und nicht daheim herumsitzen und nichts tun. Personen mit Behinderungen leiden oft unter Einsamkeit. Manchmal müssen wir Mitarbeitende zwingen, ihre Ferien zu beziehen. Während des Urlaubs fallen sie aus ihrem Tagesrhythmus, und die Einsamkeit macht sich wieder breit», sagt Corger.
In den Polyval-Werkstätten arbeiten einige mit voller Konzentration, besonders jene, die Maschinen und Anlagen aller Art bedienen. Andere, die in Gruppen arbeiten, scherzen in einer entspannten Atmosphäre miteinander.
Gibt es keine Probleme beim Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen Behinderungen? «Nein, es ist ähnlich wie in allen anderen Firmen, es gibt Personen, die sich besser verstehen, und andere, denen das schwerer fällt. Mitarbeitende mit einer Sinnesbehinderung arbeiten eher zusammen: Sie verstehen etwa Gebärdensprache und verstehen sich deshalb einfacher. Aber bei den anderen ist es eher eine Frage des Charakters, wie überall sonst auch», sagt Hervé Corger.
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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