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Rahmenabkommen: Die Schweizer Version von «remain or leave»

Flagge von Schweiz und EU
Tomas Wüthrich / 13 Photo

Die EU drängt die Schweiz zur Unterzeichnung eines Rahmenabkommens. Das Vorhaben droht an der schweizerischen Innenpolitik zu scheitern. Worum geht es?

Die Schweiz ist zwar kein Mitglied der Europäischen Union, aber über bilaterale Verträge in den europäischen Wirtschaftsraum integriert. Die EU möchte, dass institutionelle Fragen dieses bilateralen Weges in einem Rahmenabkommen geregelt werden.

SRF erklärte das Rahmenabkommen in diesem Beitrag vom 27.09.2018:

Externer Inhalt

Zwischen 2014 und 2018 handelten die Schweiz und die EU einen Text aus. Die EU drängte auf eine Unterzeichnung, doch die schweizerische Regierung führte erst einmal Konsultationen durch. Diese ergaben drei strittige Punkte im Abkommen:

  • Lohnschutz: Da Löhne und Lebenshaltungskosten in der Schweiz höher sind als im EU-Durchschnitt, fürchten Schweizer Gewerkschaften und das Gewerbe Lohndumping.
  • Staatliche Beihilfen: Die EU will keine staatlichen Subventionen. Die Schweizer Kantone befürchten, dass ihre Banken nicht mehr mit Staatsgarantien operieren dürften.
  • Unionsbürgerrichtlinie: EU-Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz hätten gleiches Anrecht auf Sozialhilfe wie die Schweizer. Die Schweizer Gegner befürchten eine «Einwanderung in die Sozialhilfe».

Unter innenpolitischem Druck versuchte die Schweizer Regierung, diese drei Punkte nachzuverhandeln. Die EU signalisierte zwar Gesprächsbereitschaft für «Klärungen», schloss aber Nachverhandlungen kategorisch aus. Seit Monaten ist die Situation verfahren.

Laut Julie Cantalou, Politikwissenschaftlerin und Präsidentin von GLP Lab, des Thinktanks der Grünliberalen Partei, fehlte es nach Abschluss der Verhandlungen an politischem Leadership des Bundesrates. Die Bundesratsparteien seien gespalten und wollten sich nicht der Zerreissprobe einer Abstimmungskampagne stellen. «Zudem haben der Brexit und weitere Krisen in Europa den Handlungsspielraum der Schweiz verkleinert.»

Ein Blick zurück

Die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz begannen eigentlich gut: Voller Optimismus stellte der Bundesrat 1992 in Brüssel ein EU-Beitrittsgesuch. Aus seiner Sicht befand sich die Schweiz auf der Zielgeraden, wollte sie doch dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beitreten, was als erster Schritt in Richtung EU-Vollmitgliedschaft galt.

Doch es kam anders: Noch im gleichen Jahr lehnte die schweizerische Stimmbevölkerung den EWR-Beitritt überraschend und äusserst knapp ab.

Die Regierung schwenkte in der Folge von ihrem EU-Beitrittskurs ab und regelte die Beziehungen zur EU stattdessen in bilateralen Verträgen.

Dieser «bilaterale Weg» hat sich in den Augen der meisten Schweizerinnen und Schweizer bewährt, ein EU-Beitritt ist vom Tisch.

Grafik
Kai Reusser / swissinfo.ch

2014 wurden die guten Beziehungen erschüttert: Die Schweizer Stimmbevölkerung hatte eine Volksinitiative zur Beschränkung der Einwanderung angenommen, obwohl die bilateralen Verträge seit 2002 Personenfreizügigkeit mit der EU garantieren. Die Aussenminister Deutschlands und Österreichs warfen der Schweiz öffentlich Rosinenpickerei vor.

Die Sache wurde heisser gekocht als gegessen: Das Parlament verwässerte die Initiative erheblich, und die Stimmbevölkerung lehnte 2020 die explizite Kündigung der Personenfreizügigkeit ab. Der Weg war wieder frei für ein Rahmenabkommen.

Wie geht es weiter?

Doch nun steht die Schweiz wieder auf Feld eins. Das Rahmenabkommen droht am innenpolitischen Widerstand zu scheitern. Die EU hat klargemacht, ohne Rahmenabkommen würden bestehende Verträge nicht aufdatiert und auch keine neuen Abkommen geschlossen.

«Ich vergleiche das Rahmenabkommen jeweils mit dem Update eines Smartphone-Betriebssystems», so Cantalou. «Man kann schon auf das Update verzichten, aber dann kann man keine neuen Apps installieren und mit der Zeit funktionieren auch die alten Applikationen nicht mehr.»

Anders ausgedrückt: Über die Zeit wird die Schweiz vom «passiven EU-Mitglied» immer mehr zu einem Drittstaat. Es sei denn, die EU und die Schweiz ordnen ihre Beziehung neu. Noch ist alles offen.

Die wichtigsten Argumente gegen einen EU-Beitritt der Schweiz sind ihre Neutralität und die direkte Demokratie.

Eine traditionell verstandene Neutralität ist mit einer EU-Mitgliedschaft nicht vereinbar, da die EU seit 2009 eine gemeinsame Verteidigungspolitik betreibt sowie eine Beistandspflicht vorsieht. Zwar verstehen sich auch einige EU-Mitglieder als neutral – zum Beispiel Irland, Österreich oder Malta. Aber die Schweiz verfolgt eine ausgeprägtere Neutralitätspolitik.

In der Schweiz können Bürgerinnen und Bürger auf nationaler Ebene über Sachfragen entscheiden. Diese direkte Demokratie ist eine Besonderheit. Bloss kollidieren Volksentscheide zuweilen mit internationalem Recht. Deshalb wird in der Schweiz befürchtet, eine EU-Mitgliedschaft gebe es nur zum Preis der Einschränkung der Volksrechte.

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