Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Russlandsanktionen: Darum sieht sich die Schweiz als Musterschülerin

Russlandsanktionen: Erwin Bollinger vom Staatssekretariat
Botschafter Erwin Bollinger ist seit Juni 2018 Leiter des Leistungsbereichs Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco. Illustration: Helen James / SWI swissinfo.ch

Die Schweiz setze die Sanktionen gegen Russland vorbildlich um, kontert Erwin Bollinger vom Staatssekretariat für Wirtschaft Seco die Kritik der G7. Einzelne Vorwürfe verweist er ins Land der Mythen, etwa im Fall des Oligarchen Andrei Melnitschenko.

SWI swissinfo.ch: Die Schweiz wird für ihre Umsetzung der Russlandsanktionen international harsch kritisiert. Der Bund bestreitet die Vorwürfe, hat aber neue Stellen bewilligt. Was bedeuten die Mittel für das Seco?

Erwin Bollinger: Wir haben bis jetzt 10 Sanktionspakete übernommen, hatten über 8000 Anfragen per Mail, über 10’000 Anrufe, dazu Sanktionsdialoge mit der EU, dem Vereinigten Königreich, den USA, parlamentarische Vorstösse – eine unglaubliche Fülle von Arbeit.

Das alles hat dazu geführt, dass unsere Ressourcen im letzten Jahr nicht gereicht haben. Wir haben darum schon 2022 fünf zusätzliche befristete Stellen bekommen und jetzt noch einmal fünf weitere.

Dann trifft die Kritik, die Schweiz unternehme zu wenig, zu? Immerhin hätte man diese Stellen schon vor einem Jahr schaffen können.

Wir hatten vor dem Krieg in der Ukraine 8 Personen für die Umsetzung von 24 Sanktionsregimes. Jetzt haben wir etwas über 20. Etwa zwei Drittel arbeitet an den Russlandsanktionen. Es geht dabei nicht nur um Rechtsauskünfte und Abklärungen. Auch die Fälle, wo Vermögen blockiert sind, machen Arbeit.

Ist ein Unternehmen im Besitz einer sanktionierten Person, müssen Mieten und Löhne weiterbezahlt werden. Es braucht dann für alle solche Zahlungen eine Ausnahmebewilligung vom Seco.

So etwas ist die Schweiz nicht gewohnt: In einem Brief an den Bundesrat haben die Botschafter der G7 der Schweiz vorgeworfen, die Russlandsanktionen nicht aktiv genug umzusetzen. Bereits zuvor hatte Scott Miller, US-Botschafter in Bern, die Samthandschuhe der Diplomatie abgelegt und in der NZZ gesagt: «Sanktionen sind nur so stark, wie der politische Wille dahinter.»

Der Vorwurf an die Schweiz lautet, zu wenig Mittel für die Suche nach zu sperrenden Geldern zur Verfügung zu stellen. Auch stehe der Schutz der Privatsphäre den in- und ausländischen Ermittlungen im Weg. Die Schweiz hat gemäss letztem offiziellem Stand 7,5 Milliarden Franken und 15 Liegenschaften eingefroren. Das sei viel zu niedrig.

Miller nannte, ohne Beweisführung, die Zahl von 50 bis 100 Milliarden Franken, welch die Schweiz bei engerer Zusammenarbeit mit internationalen Behörden sperren könnte.

Die Schweiz hat einen Beitritt zur sogenannten Repo-Task-Force, der die G7 und Australien angehören, bisher abgelehnt. Sie bevorzugt den Weg via Dialog und Rechtshilfe.

Dass die Schweiz die EU-Sanktionen übernimmt, hatte der Bundesrat am 28. Februar 2022 entschieden, vier Tage nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Die Schweiz setzte damit ein politisches Zeichen, nachdem der Bundesrat 2014, bei der Annexion der Krim, noch entschieden hatte, lediglich die Umgehung der Sanktionen der EU und der USA via Schweiz zu verhindern.

Allein Ihre Behörde zählt 800 Köpfe, die ganze Bundesverwaltung beschäftigt über 40 000 Personen. Da erscheinen 14 Personen, die an den Russlandsanktionen arbeiten, nicht wie eine Priorisierung.

Man muss aufpassen, dass man nicht Äpfel und Birnen vergleicht. Das Seco hat andere, ebenfalls wichtige Aufgaben, die in anderen Ländern von eigenen Ministerien wahrgenommen werden. Und dann ist die Zahl der Leute allein nicht entscheidend, es geht auch um die Qualität. Man braucht Fachleute in Compliance. Auch andere Länder wie England bekunden Mühe, genug kompetente Leute zu finden.

Auch damit bestätigen Sie indirekt die Vorwürfe, dass der Behörde die Schlagkraft fehlt.

Wir sehen das anders. Die Mittel wurden praktisch verdreifacht, so wie in anderen Ländern auch. Bei der EU-Kommission sind rund 25 Leute für die Sanktionen im Einsatz. Wir sind ausserdem nicht allein bei der Umsetzung der Sanktionen, sondern haben Unterstützung seitens unserer Partnerbehörden: das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen, das Aussendepartement, die Finanzmarktaufsicht, die Bundesanwaltschaft, das Staatssekretariat für Migration und weitere.

Einerseits fehlen Ihnen die Leute, andererseits helfen Ihnen andere Behörden. Wäre eine Taskforce jenseits der bestehenden Strukturen nicht agiler?

Die Frage ist, würde eine Taskforce die Effizienz steigern? Wir sind der Meinung nein. Es würde nur das Etikett ändern. Involviert wären dieselben Leute.

Hat der internationale Druck die Dringlichkeitswahrnehmung im Bundesrat verstärkt?

Die Dringlichkeit hat der Bundesrat immer erkannt. Was vielleicht verkannt wird, ist die Leistung der Verwaltung. Weil die Schweiz kein EU-Land ist, kennen wir den Inhalt der EU-Sanktionspakete erst am Publikationstag.

Wir müssen diese dann in Schweizer Recht umsetzen. Als die Schweiz im Februar 2022 beschlossen hat, die EU-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen, haben wir vier Tage und Nächte durchgearbeitet. Ich bin überzeugt, kein Drittstaat, der die EU-Sanktionen übernimmt, schafft das so schnell.

Zuerst aber vergingen im Februar 2022 vier Tage, bis der Bundesrat überhaupt den Beschluss fasste. Warum?

Man musste über einen Systemwechsel entscheiden. Darüber, ob weiterhin Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung der EU-Sanktionen beschlossen werden sollten, wie nach der Annexion der Krim, oder die Sanktionen der EU tel quel übernommen werden sollen. Die Wirkung sollte in beiden Fällen dieselbe sein. Der bisherige Weg wurde nun zu kompliziert.

Es stimmt: Es vergingen vier Tage bis zum Entscheid, weitere vier Tage später hatten wir das Sanktionspaket der EU umgesetzt. Andere Drittstaaten haben rasch eine politische Zusage gemacht, die Sanktionen aber erst Monate später umgesetzt.

Bleiben wir bei der Krim: Selbst wenn die Gleichung stimmt, dass die Schweiz mit anderen Massnahmen dieselbe Wirkung erzielte, was brachte dieser Sonderzug – ausser schlechte Presse?

Der Bundesrat hat 2014 diesen Weg gewählt. Die Schweiz hatte damals den OSZE-Vorsitz inne und wollte diese Rolle nutzen und mit Russland im Gespräch bleiben.

Die neuen Sanktionen beschäftigen die Schweizer auf zwei Ebenen: Erstens liegen hier enorme Summen an russischem Vermögen, zweitens wird hier ein Grossteil der russischen Rohstoffe gehandelt. Was ist das grössere Problem?

In beiden Bereichen müssen wir die Massnahmen umsetzen. Zum Ausmass an Vermögen in der Schweiz gibt es viele Spekulationen. Wichtig ist zwischen nicht sanktionierten und eingefrorenen Vermögen zu unterscheiden.

Wir waren weltweit fast die ersten, die Zahlen nennen konnten. Die Banken haben eine Sperrpflicht, sie müssen die Vermögen einfrieren und danach Meldung ans Seco machen.

Der Schweizer Bankenplatz hat im Zuge der Geldwäschereibekämpfung eine grosse Transformation hinter sich. Würden Sie sagen, die Banken sind sauber?

Das würde ich so sagen, auch wenn ich natürlich nicht die Hand dafür ins Feuer legen kann, dass es kein schwarzes Schaf gibt. Aber ja, Schweizer Banken sind heute sehr vorsichtig.

Wohin fliesst und wo liegt das Geld sanktionierter Personen denn heute? In den USA, im arabischen Raum, in Hong Kong, China?

Das wissen die Banken, wir haben keinen Einblick. Was ich feststellen muss, ist: Es gibt in der medialen Berichterstattung einen Fokus auf sanktionierte Personen und Gelder.

Wir haben in der 30-seitigen Verordnung andere Massnahmen wie Technologie- und Dienstleistungsverbote oder Güterexportbeschränkungen, die gut funktionieren und möglicherweise wichtiger sind für die Schwächung der militärischen Kapazitäten Russlands und die Fortführung des Kriegs in der Ukraine.

Was an der Schweiz haften bleibt, ist der Vorwurf der Gehilfenschaft. Der Sektor von Anwältinnen und Treuhändern, die Finanzgeflechte weben, ist schwach reglementiert.

Treuhänderinnen und Anwälte sind im Sanktionsfall schon heute meldepflichtig. Keine Meldepflichten bestehen einzig bei Geldwäschereiverdacht – es gibt Bestrebungen das diesbezügliche Gesetz auf diese Berufsgruppen auszuweiten. Diskutiert wird auch, ein Register für wirtschaftlich Berechtigte einzuführen. Das dürfte, wenn es kommt, helfen, wird aber keine magische Lösung für alles sein.

Es gab bei der Umsetzung der Sanktionen Fälle, die der Schweiz schlechte Presse eintrugen. Der Rohstoffmagnat Andrey Melnitschenko , der in St. Moritz lebt, hat vor seiner Sanktionierung «auf sein Vermögen in der Schweiz verzichtet», wie seine Anwält:innen es formulieren. Seine Frau wurde dann Nutzniesserin dieser Vermögenswerte. Wurden die Schweizer Behörden vorgeführt?

Das ist ein Mythos. Er ist sanktioniert worden, von der EU wie dann auch von der Schweiz. Aber genauso seine Frau, erst von der EU und dann von uns. In den USA und in Grossbritannien ist bloss er sanktioniert und sie nicht.

In Genf sind im letzten Jahr neue Firmen entstanden, die im Verdacht stehen, Sanktionen zu umgehen, konkret die Preisdeckelung für russisches Öl. Genannt werden die Paramount SA und die Sunrise Trade SA. Wie steht das Seco zu diesen Firmen?

Uns sind diese Unternehmen bekannt und wir haben Informationen verlangt. Wichtig ist, dass man die Idee des Oil-Cap versteht, es handelt sich nicht um ein Handelsverbot, sondern um einen Price-Cap. Ziel ist es, die globale Energieversorgung aufrecht zu erhalten, ohne dass Russland mit den Gewinnen den Krieg finanziert.

Ein System, das zum Missbrauch einlädt.

Die Idee kommt von den G7.

Bei den genannten Firmen gibt es Zweifel, ob sie die Spielregeln einhalten, und es wird eine russische Eigentümerschaft vermutet. Wie gehen Sie in so einem Fall vor?

Wir haben eine Reihe von Möglichkeiten, dazu gehören Auskunftspflichten und Amtshilfe, d.h. der Austausch von Informationen mit anderen Ländern.

Müssen ihnen die Firmen im Rohstoffsektor Informationen aktiv abliefern?

Sie haben dieselbe Meldepflicht für Vermögenswerte wie z.B. Banken, sonst aber keine Meldepflichten. In der EU ist das genau gleich geregelt. Es gibt von der EU auch eine Empfehlung zur Dokumentation von Geschäften, ohne rechtliche Bindung, auf die wir ebenso verweisen.

Wie gehen Sie bei der Suche nach schwarzen Schafen vor?

Wir gehen Hinweisen nach, von Partnerstaaten oder Medien zum Beispiel. Dann folgt ein komplexer Prozess.

Sie nennen nur externe Quellen. Dass ist doch genau der Vorwurf an die Schweiz und ans Seco, dass man nur reagiere, nicht agiere.

Auch das ist ein Mythos. Wir gehen gezielt Hinweisen aus unterschiedlichen Quellen nach. Auch andere Staaten gehen so vor. Wir gehen risikobasiert vor. Es macht wenig Sinn, alle Meldungen oder z.B. alle Finanzintermediäre überprüfen zu wollen. Das macht niemand.

Medien sprechen mit Brancheninsidern, werten öffentlich Informationen aus, zum Beispiel Schifffahrtsrouten. Auf dieser Ebene arbeitet das Seco nicht?

Wir sind mit Unternehmen in Kontakt, haben Zollstatistiken und Meldungen, die bei der Meldestelle für Geldwäscherei eingehen. Finanzintermediäre sind zu diesen Meldungen verpflichtet, auch im Falle von Sanktionsverletzungen, die eine mögliche Vortat für Geldwäscherei darstellen.

Warum schliesst sich die Schweiz nicht einer internationalen Ermittlungsbehörde an?

Wir tauschen heute auf wöchentlicher Basis Zahlen und Dokumente aus, vor allem mit der EU, aber auch mit den USA funktioniert es gut. Ob die Schweiz auch offiziell Teil einer internationalen Task-Force sein soll, ist eher eine Frage des politischen Signals.

Welche Strafen drohen in der Schweiz bei einer Verletzung der Sanktionen?

Das geht von einer Million Franken und einem Jahr Gefängnis bis zu 5 Millionen und 5 Jahren Gefängnis. Bis jetzt wurden erst zwei kleine Strafbescheide rechtskräftig abgeschlossen, die grossen Untersuchungen laufen noch.

Der US-Sanktionsexperte Juan Zarate plädiert für einen Generalverdacht gegen alle russischen Vermögen als neue Norm. Ist so ein Ansatz mit dem Schweizer Rechtssystem vereinbar?

Es wäre ein massiver Eingriff in die Grundrechte. In einem Rechtstaat ist das kaum denkbar. Das wird auch die Diskussion sein, wenn es um die allfällige Einziehung der eingefrorenen Vermögen geht.

Ich sage nicht, dass das für die Schweiz absolut unmöglich wird, aber es bedürfte dafür einer international abgestimmten gesetzlichen Grundlage und im Einzelfall, müsste den Betroffenen das Recht eingeräumt, sich juristisch zu wehren.

Der Krieg in der Ukraine sollte ein Wendepunkt für die Schweiz sein, um ihre Einstellung zur Transparenz zu ändern, sagt Tom Keatinge, Experte für Finanzkriminalität und Sanktionen:

Mehr
Bild des Schweizer Kreuzes. Eine Hand gemalt mit G7-Flaggen im Tauziehen. Eine Karte der ukrainischen Demonstranten von Russland

Mehr

Die Schweiz muss beweisen, dass sie auf der Seite der Guten steht

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Krieg in der Ukraine sollte ein Wendepunkt für die Schweiz sein, um ihre Einstellung zur Transparenz zu ändern, sagt Tom Keatinge, Experte für Finanzkriminalität.

Mehr Die Schweiz muss beweisen, dass sie auf der Seite der Guten steht

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft