Schweizer:innen in Deutschland: Fragezeichen zu Berns Europapolitik
Bei der lebendigen Jahreskonferenz der Auslandschweizer-Organisation Deutschland war das Top-Thema die Sicherung der Personenfreizügigkeit. Das heisst: Die angeschlagene Beziehung der Schweiz zur EU.
Wie gross die allgemeine Ratlosigkeit über das Verhältnis der Schweiz zur EU derzeit ist, zeigt ein Blick aus Deutschland. An der ASO-Tagung in Düsseldorf gab Botschafter Urs Hammer am Auffahrtswochenende den Anwesenden einen Abriss über den aktuellen Status. Dieser ist für Schweizer Bürger, die in EU-Ländern leben, von besonderem Interesse. Für sie ist eine gut geregelte bilaterale Beziehung Schweiz-EU von zentraler Bedeutung. Sie garantiert ihnen eine weiterhin funktionierende Personenfreizügigkeit.
Hammer ist derzeit im Schweizer Aussendepartement EDA für die Länderbeziehungen in der Abteilung Europa zuständig. Er stellte dar, dass die Schweizer Regierung allein im Jahr 2021 über 50 Treffen und Gespräche mit Partnern aus der EU geführt hatte – und dieses Jahr ging der Reigen weiter, unter anderem mit den Staatsoberhäuptern von Lettland, Kroatien, Ungarn und Österreich.
Das scheint nicht wenig, ist aber auch nicht viel, wenn man weiss, dass die wirklich wichtigen Figuren wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron oder EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der Schweiz sichtlich tiefe Priorität einräumen. Die Schweiz betreibt ihre Beziehungspflege also in hoher Rotation, vernehmbare Fortschritte bleiben dabei aber aus.
Immerhin, so wurde an der Tagung betont: In Berlin konnte der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis Ende Januar dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz die Hände schütteln – und dem Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier, und der Aussenministerin Annalena Baerbock.
Für die Schweiz war es eine weitere Gelegenheit des Klinkenputzens, diesmal beim grossen, in Brüssel einflussreichen Nachbar. Für Deutschland blieb es realistisch betrachtet eher ein nachbarschaftlicher Antrittsbesuch, den man der vorhandenen Verstimmung in der EU zum Trotz höflich gewährt hat.
«Es gibt Zeitdruck»
Optimismus gibt es nicht, aber Hoffnung. «Wir hoffen, dass sich bei der EU Kommission eine flexiblere Haltung entwickelt», sagte Diplomat Urs Hammer und präsentierte den anwesenden Auslandschweizer:innen den vom Bundesrat entwickelten Paket-Ansatz, über den die Schweizer Regierung derzeit in Brüssel Sondierungsgespräche zu führen versucht. «Es ist Zeitdruck vorhanden», sagte Hammer mit Bezug auf den Ausschluss der Schweiz aus dem EU-Forschungsprogramm Horizon, und beim Bildungs-Austauschprogramm Erasmus drohe das Gleiche.
«Wie realistisch ist, was der Bundesrat von der EU wünscht? Glaubt man wirklich, dass die EU das schluckt?», fragte der Präsident des Schweizervereins Düsseldorf, Rudolf Burkhalter. Hammer bejahte: «Die Masse dieses neuen Paketes ist so gross, dass ein Interessensausgleich leichter möglich wird.»
Problem vergrössert
Damit verwies der Diplomat auf die Schweizer Strategie. In der Schweiz wurde diese bisher kaum so deutlich benannt: Nachdem Brüssel die Verhandlungen für abgeschlossen erklärt hatte, vergrösserte Bern schlicht die Verhandlungsmasse – eine klassische Verhandlungstaktik. Sie lautet: «Wenn man ein Problem nicht lösen kann, muss man es vergrössern.» So also nimmt der Schweizer Bundesrat nach seinem Abwenden vom institutionellen Rahmenabkommen neuen Anlauf: unter Zeitdruck, mit einem grossen Problem. Ob das funktioniert?
Offenbar nicht im aktuellen Klima. Dieses skizzierte der Schweizer Botschafter in Berlin, Paul Seger. Er schilderte den Auslandschweizer:innen in Deutschland die Stimmung in ihrem Wohnland gegenüber der Schweiz als ernüchtert.
Die einseitige Beendigung der Gespräche ums Rahmenabkommen habe in Deutschland «ziemlich viel Überraschung» ausgelöst. Man verstehe in Deutschland zwar, dass die Schweiz nicht der EU beitreten möchte, aber dass sie nicht einmal ein strukturiertes Verhältnis mit der EU wolle, das habe «viel Erklärungsbedarf erfordert».
Als Botschafter in Berlin, so Seger, nimmt er eine abnehmende Sensibilität für Schweizer Belange wahr, je weiter man sich von der Landesgrenze entferne. Und Berlin ist weit entfernt. «Die Berliner Politik ist zu 80% Innenpolitik und zu 20% Aussenpolitik», sagte Seger, und in der deutschen Aussenpolitik dominierten Brüssel, China, die USA, Russland. «Für uns bleibt relativ wenig Zeit und Interesse übrig.»
«In Geiselhaft»
Auch hier: Optimismus gibt es nicht, aber Hoffnung. Seger schilderte Deutschland als «einen unserer besten Freunde in Brüssel». Dies gelte besonders in Bezug auf die «Geiselhaft» der EU, in der sich die Schweiz befinde. Seger spielte damit auf die Herabsetzung der Schweiz beim EU-Forschungsprogramm Horizon an, auf diesen schmerzvollen Brüsseler Nadelstich. Hier nehme er eine grosse Solidarität von Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg wahr. «Kretschmann steigt für uns in Brüssel in die Hosen», sagte er.
Tatsächlich liegt viel Schweizer Hoffnung auf einem Treffen des deutschen Grünen-Politikers Kretschmann mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im kommenden Sommer. Kretschmanns Bedeutung für die Schweiz hatte auch Urs Hammer in seiner Lagebeurteilung hervorgehoben. Was aber auch heisst: Die Schweizer Hoffnung liegt derzeit offenbar ausserhalb der eigenen Einflusssphäre.
Schlimm und weniger schlimm
ASO-Präsident Filippo Lombardi erklärte den rund 100 in Düsseldorf anwesenden Auslandschweizer:innen, warum der Bundesrat vor einem Jahr das Rahmenabkommen mit der EU überhaupt erst beerdigt hat. «Es gab zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich nicht viel Besseres zu tun», zeigte er sich überzeugt.
Der gut vernetzte alt Ständerat schilderte, wie der Bundesrat vor einem Jahr befürchtete, das damals vorliegende Verhandlungsergebnis könnte beim Volk am Ende durchfallen. Dies wollte der Bundesrat der EU ersparen. «Es wäre schlimmer gewesen», so Lombardi. So hielt die Schweizer Regierung laut Lombardi ein Bundesrats-Nein zum Weiterverhandeln für weniger schlimm als ein allfälliges Volks-Nein zu einem Vertrag.
Lombardi lieferte in Düsseldorf ausserdem eine Tour d’Horizon über die aktuellen Arbeiten und Prioritäten der Auslandschweizer-Organisation in Bern. Er betonte, dass die wachsende weltweite Community der Auslandschweizer:innen im Inland in allen möglichen Formen wahrgenommen werden müsse: «Es reicht nicht, wenn an jedem 1. August ein Bundespräsident sagt, dass jeder Auslandschweizer ein Botschafter der Schweiz im Ausland sei.»
Weitere Themen, zu denen Lombardi den Auslandschweizer:innen in Düsseldorf Einblick gab:
Die Schweizer Revue bleibt weiterhin in Heftform erhältlich. «Wir wissen, wie wichtig das Papier ist. Die Revue kommt vielleicht spät, aber sie kommt und sie bleibt im Haus, im Salon, auf der Toilette, im Schlafzimmer. Ich werde das Papier verteidigen.»
In der Frage um überhöhte Kontoführungsgebühren von Schweizer Banken für Auslandschweizer:innen ist laut Lombardi wieder Bewegung gekommen. Die Genfer Kantonalbank, die seit einiger Zeit verhältnismässig günstige Lösungen anbietet, ziehe eine positive Bilanz. Auch andere Banken zeigten nun Interesse. Entsprechende Verhandlungen seien am Laufen. Zudem habe die Postfinance für in Nordamerika lebende Schweizer Bürger:innen ihre Kontoführungsgebühren gesenkt. Wir haben auch hier zum Thema berichtet:
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Digitalbank ist für die Fünfte Schweiz noch kaum die Lösung
E-Voting: Der Auslandschweizer-Rat wird zur Testgruppe für den Versand von Abstimmungsunterlagen. Das soll eine gewisse Messbarkeit und Klarheit in die Problematik der oft zu spät eintreffenden Wahlcouverts bringen. Wir haben hier darüber berichtet:
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Verspätete Abstimmungs-Post: Die Lösung liegt im früheren Versand
Viele Auslandschweizer:innen können deswegen ihre politischen Rechte nicht wahrnehmen. «Wir versuchen, mit dieser Testgruppe konkrete Zahlen zu erhalten, um zu beweisen, dass nur ein E-Voting die Lösung sein kann», sagte Lombardi. «Wenn E-Voting für Frankreich funktioniert, sollte es möglich sein, dass es auch für die Schweiz funktioniert.»
«Beim E-Voting geht es schnell und gut vorwärts», bestätigte Michele Malizia, der als Vertreter des Aussendepartements EDA nach Düsseldorf gekommen war. Es gebe nun eine rechtliche Grundlage und ein System. «Wir hoffen, dass wir es mit der Parlamentswahl 2023 einführen können», kündigte Malizia an.
«Ihr seid das Tor zur Welt»
Im Übrigen profitierte die zweitägige Konferenz der ASO Deutschland in Düsseldorf vom durchdringenden Enthusiasmus ihres neuen Präsidenten Albert Küng. Den Vertretern von verschiedenen Schweizer Clubs in Deutschland rief er zu: «Ihr seid das Tor zur Welt!» Dass da und dort Mitglieder schwinden, ist feststellbar, doch es werden auch neue gewonnen. Gerade heute böten die Vereine wieder grossen Mehrwert. «Die zunehmende Vernetzung macht uns attraktiv, auch für die Jüngeren», sagte Küng.
Er hatte dem Kongress sowie auch dem Rahmenprogramm nach einer lähmenden Phase der Pandemie einen engen Takt und reiche Abwechslung verschrieben. So gab es auch einen kundigen Vortrag zur Geschichte des Rheins und ein historisches Referat zur Schweizer Hilfe an deutschen Kindern nach dem Krieg.
Eingeladen war auch ein Beamter des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Er erklärte, wie man sich als Schweizer:in in Deutschland einbürgern lassen kann. Es ist eine Handlungsoption, für den Fall, dass sich die Gemengelage zwischen der Schweiz und Europa nicht entflechten liesse. Wenn Bern schon keinen hat, für Auslandschweizer:innen gibt es den Plan B.
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