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Verlagerungspolitik: Von der Vor- zur Nachhut

Der 4-Meter-Korridor für den kombinierten Güterverkehr: Im Nord-Süd-Verkehr durch die Lötschberg-Simplon-Achse existiert er bereits. Keystone

Bei der Güterverkehrs-Verlagerung von der Strasse auf die Schiene war die Schweiz bisher Europa weit voraus. Weil sich der Markt im Schienenverkehr aber nur zögerlich öffne, könnte die Schweiz ins Hintertreffen geraten, befürchten viele Transporteure.

Die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene hat in der Schweiz eine lange Geschichte: Mit dem Ja zur Alpeninitiative war dieses Anliegen schon 1994 in die Bundesverfassung aufgenommen worden.

Zu den Instrumenten dieser Politik gehören die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) und die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) mit dem Gotthardbasistunnel, die vorgeschlagene Alpentransitbörse oder die Förderung des kombinierten Verkehrs (Huckepack-Lösungen).

Der kombinierte Güterverkehr und die künftige Ausrichtung der Verkehrspolitik standen auch im Zentrum der Diskussionen am diesjährigen Logistik-Forum in Zürich.

Damit der Nutzen des Gotthardbasistunnels für den kombinierten Güterverkehr überhaupt zum Tragen komme, brauche es von Deutschland bis Italien einen durchgehenden Schienen-Korridor mit 4 Metern Eckhöhe für die Sattelschlepper-Züge, sagte Hans-Jörg Bertschi, Präsident und CEO des Schweizer Transport- und Logistikunternehmens Bertschi AG, den Teilnehmern am Forum.

VCS-Initiative und Gegenentwurf

Bertschi und andere private Logistikunternehmen fordern eine Verlagerungspolitik zugunsten der Schiene, aber «möglichst ohne Subventionen».

Einen anderen Weg schlägt der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) vor, der letzten Herbst eine Volksinitiative für den öffentlichen Verkehr eingereicht hat. Die Initianten fordern, dass ein höherer Anteil der Mineralsteuer an den Schienenverkehr fliessen soll, zu Lasten des Strassenverkehrs, wie Nationalrätin und VCS-Präsidentin Franziska Teuscher am Forum darlegte.

Dieser Initiative stellt sich nicht nur die Strassenlobby entgegen. Auch der Bundesrat und private Transport-Unternehmen sind dagegen. Das Bundesamt für Verkehr arbeitet deshalb an einem Gegenentwurf namens «FABI» (Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur). Dabei soll ein Bahninfrastrukturfonds eingerichtet werden, der auch, aber nicht nur aus der Mineralölsteuer finanziert würde.

Die Vernehmlassung dauert noch bis kommenden Juli. Vors Volk komme die Vorlage 2013 oder 2014, schätzt BAV-Direktor Peter Füglistaler.

Schiene heisst noch lange nicht Bahn

Wie der VCS finden auch private Transportunternehmen die Schiene als Transportweg zwar sehr geeignet, die europäischen Staatsbahnen mit ihren Monopolpositionen, SBB inklusive, jedoch weniger. Und es stelle sich die Frage, wer für die kostspieligen Investitionen für den Ausbau nördlich und südlich der NEAT aufkommen solle: «Der durchgehende 4-Meter-Korridor in Süddeutschland und Norditalien würde rund eine Milliarde Franken kosten,» schätzt Bertschi.

Der Niedergang der Schiene als Transportweg sei auf die traditionell staatliche Organisation der jeweiligen Landesbahnen zurück zu führen, welche die Schienen bewirtschafteten, sagt Bertschi und liefert Beispiele: Die staatlichen Monopole hätten zur Folge gehabt, dass die einzelnen Länder völlig verschiedene, für Lokomotiven oft inkompatible Stromversorgungsarten kennen, und «dass Lokführer für jedes Land einen separaten Führerschein besitzen müssen».

Marktöffnung auf der Schiene als Vorbedingung

Die schwerfällige Regulierung der Schiene gegenüber der Strasse sei ein wichtiger Grund dafür, dass der Gütertransport mit der Bahn derart Anteile verloren habe – unabhängig von der Schiene als Transportweg. Erst «die stufenweise Öffnung der europäischen Bahnmärkte hat den Niedergang der Schiene endlich stoppen können», so Bertschi.

In jenen Ländern, die ihre Bahnen schneller privatisiert hätten, habe die Schiene bereits wieder Marktanteile zu Lasten der Strasse gewonnen. Das bringe auch die Schweiz in eine Zwickmühle: Indem er die Trassen vergebe, gebiete der Bahnmonopolist SBB sowohl über die Schienen als auch über Infrastrukturen, den Personen- und den Güterverkehr.

Diese Vergabe der Trassen entspricht der Bewilligung, zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Strecke zu fahren. Laut Bertschi sollte diese zu den Kompetenzen eines neutralen Regulators gehören, statt von (Staats-)Bahnen wahrgenommen zu werden.

Weil dies nicht der Fall sei, «spielt die Schweiz in der weiteren Marktöffnung keine Vorreiterrolle». Bei substanziellen Paketen der Bahnreform hinke die Schweiz der EU hinterher. Das behindere den Ausbau der Infrastrukturen im Land. Er bedauert dies, denn im Vergleich mit Europa sei die Schweizer Verlagerungspolitik «äusserst erfolgreich» gewesen.

«In den letzten zwölf Jahren wuchs der kombinierte Verkehr durch die Schweiz um über 50%, während die Anzahl Lastkraftwagen durch die Alpen absolut um 10% sank.» Die Schweizer Verlagerungsquote erreiche deshalb bereits 50%, während sie bei den anderen Alpenübergängen nur 10 bis 20% betrage.

Noch habe die Schweiz also einen Vorsprung, die Frage sei nur, wie lange noch: Erstmals hat nämlich die EU in einem Weissbuch den europäischen Verkehr ebenfalls unter das Thema Umwelt- und Klimaschutz gestellt und Verlagerungsziele formuliert – an sich ein willkommenes Novum. Es könnte aber den Vorsprung der Schweiz bald in einen Rückstand verwandeln.

79% des Schweizer Güterverkehrs fand 2008 auf der Strasse statt, 15% auf Schienen.

Das mag als wenig erscheinen, doch in Europa läuft über 85% allen Landverkehrs über die Strasse.

Das grösste Wachstumspotenzial in der Verlagerung Strasse/Schiene liegt bei den Sattelzügen:

Der Anteil der Sattelschlepper im alpenquerenden Strassengüterverkehr beträgt heute 60% aller Fahrzeuge.

Die EU-Verkehrskommission strebt an, den CO2-Ausstoss des Verkehrs bis 2050 um 60% im Vergleich zum Jahr 1990 zu reduzieren.

Erreicht werden soll dies mit Innovation und Technologie, Infrastrukturausbau (Verlagerung Strasse-Schiene) und einem integrierten europäischen Transportsystem.

Im Landverkehr sollen 30% der Strassentransporte bis 2030, 50% bis 2050 auf Strecken von über 300 km auf die Schiene und Wasserwege verlagert werden.

«Die EU ist in den Bahnreformen der Schweiz voraus», schrieb das Bundesamt für Verkehr bereits im Januar 2009.

Mit den ersten beiden EU-Bahnpaketen sollen die Voraussetzungen geschaffen werden für einen durchgehenden, grenzüberschreitenden Zugverkehr auf dem ganzen europäischen Bahnnetz (Interoperabilität).

Gemäss Landverkehrs-Akommen ist die Schweiz verpflichtet, die EU-Rechtssetzung zu prüfen und zu übernehmen.

In der Bahnreform 2 soll der Schweizer Schienenverkehr EU-tauglich gemacht werden. Unumstritten ist dabei die Interoperabilität.

Umstritten jedoch ist die Frage, wie weit der Schienennetz-Zugang für Leistungsträger von Güterverkehr geöffnet werden soll (Marktöffnung).

Sollen nur die Verkehrskorridore, wo der internationale Güterverkehr durchgeht, für Wettbewerb geöffnet werden, oder das gesamte Schienennetz.

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