«Viele hier haben langsam die Nase voll»
Roland Isler erlebt gegenwärtig in der australischen Stadt Melbourne den zweiten Lockdown. Wie der gebürtige Ostschweizer mit Maskenpflicht und nächtliche Ausgangssperre klarkommt, berichtet der 61-Jährige im Interview.
In Melbourne wütet dieser Tage eine zweite Corona-Welle. Seit dem 9. Juli befindet sich die zweitgrösste australische Stadt in einem erneuten Lockdown, seit Sonntag gilt nachts sogar eine Ausgangssperre. Dies, nachdem die Stadt bereits im März und April lahmgelegt wurde.
Die fünf Millionen Einwohner können nur für wenige Ausnahmen aus dem Haus, in der Öffentlichkeit gilt die Maskenpflicht. Betroffen davon sind auch rund 5100 Schweizer, die in und um die Stadt leben. Einer davon ist der 61-jährige Roland Isler aus Goldach im Kanton St. Gallen.
Melbourne verzeichnet von Tag zu Tag schlimmere Zahlen – momentan registrieren die Behörden 500 Neuinfizierte sowie mehrere Tote pro Tag.
swissinfo.ch: Wie geht es Ihnen?
Roland Isler: Mir und meiner Familie geht es körperlich soweit gut. Psychisch ist es mittlerweile aber schwierig, da man kaum mehr aus dem Haus darf. Somit gibt es keinen persönlichen Kontakt mit anderen mehr. Ich vermisse meine Freunde und Verwandten. Was ausserdem auf die Stimmung drückt: Niemand weiss, wann sich die Lage endlich bessert.
Wie sieht es in der Stadt momentan aus?
Melbourne ähnelt einer Geisterstadt, es ist ein beängstigendes Gefühl. Es sind nur wenige Leute unterwegs. Viele haben langsam die Nase voll. Denn man sieht kein Licht am Ende des Tunnels. Es ist auch völlig offen, ab wann wir wieder reisen können.
Wir können ja auch nicht aus dem Bundesstaat Victoria raus. Die Grenzen zu den anderen australischen Staaten sind zu, und ins Ausland können wir auch nicht. Eines gilt es aber festzuhalten: Die meisten Leute halten sich gut an die Vorgaben.
Melbourne befand sich schon im März und April einmal im Lockdown. Was ist nun anders?
Im ersten Lockdown hatten wir mehr Freiheiten. Es gab auch keine Maskenpflicht, nun gibt es eine solche. Während des ersten Lockdowns hiess es, die Bevölkerung soll so weit wie möglich zuhause bleiben. Aber man wurde nicht gebüsst.
Jetzt darf man nur noch für medizinische Angelegenheiten, körperliche Ertüchtigung, Einkäufe und für die Arbeit aus dem Haus, wenn diese nicht von zu Hause aus erledigt werden kann.
Zudem gibt es eine nächtliche Ausgangssperre. Die Polizei kontrolliert das Einhalten der Regeln mit Hunderten von Polizisten und an Dutzenden Kontrollstellen. Wenn man sich nicht daran hält, riskiert man mit einer Busse von über 1600 Dollar (rund 1000 Franken).
In Melbourne wurde vor beiden Lockdowns Toilettenpapier gehamstert. Wie haben Sie sich auf die Einschränkungen vorbereitet?
Als ich die ersten Nachrichten zu den WC-Papier-Hamstereinkäufen gesehen habe, musste ich laut lachen. Ich konnte es kaum glauben, dass sich Leute so benehmen. Meine Frau und ich machen keine Hamstereinkäufe. Wir waren und sind gut vorbereitet und haben immer einen soliden Vorrat in der Garage.
Roland Isler wuchs in Goldach auf. Er absolvierte die Lehre zum Schriftsetzer bei der Satiremagazin «Nebelspalter» in Rorschach. Der mit einer Franko-Australierin verheiratete 61-Jährige wanderte 1982 nach Melbourne aus, ist aber nach wie vor eng mit der Schweiz verbunden.
Im Auslandschweizerrat vertritt er die Interessen der Schweizer in Ozeanien und bringt diese in der offiziellen Schweiz ein. Zudem war er während mehrerer Jahre im Vorstand des Schweizer Clubs Victoria, mittlerweile ist er Ehrenmitglied des Vereins. (mst)
Sie sind seit 2009 im Auslandschweizerrat und sind auch im Schweizer Club des Bundesstaats Victoria aktiv. Sie kennen also viele Schweizer in der Gegend. Wie geht es anderen Schweizern in Melbourne?
Es gibt einige Fälle, wo finanzielle Not am Mann ist. Einige Schweizer haben ihre Stelle verloren und können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Wir versuchen mittels Schweizer Wohltätigkeitsvereinen, die Schweizer in Australien unterstützen, zu helfen.
Ansonsten geht es vielen gleich, wir sitzen alle im selben Boot. Wir versuchen, die Verbundenheit untereinander aufrecht zu erhalten, gerade auch im Hinblick auf den 1. August, den wir sonst immer feiern. Jetzt konnten wir das nur virtuell machen.
Sie leben seit 1982 in Australien. Vermissen Sie in solchen Zeiten Ihre Heimat?
Ich denke jeden Tag an die Heimat und ich spreche jede Woche mit meinem bald 90-jährigen Vater, der in Goldach lebt. Auch mit meinen anderen Familienangehörigen und Freunden stehe ich in regelmässigem Kontakt. Aber das wäre auch ohne Covid-19 der Fall.
Was ich bedaure, ist, dass meine Frau und ich momentan nicht in die Schweiz reisen können, und wir nicht wissen, wann es wieder möglich sein wird. Das tut schon weh. Aber es ist nicht so, dass ich Heimweh hätte oder zu Tode betrübt wäre. Denn ich fühle mich sowohl als Bürger von Australien als auch der Schweiz.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch