Vor 80 Jahren: General Guisans Rütli-Rapport
Der 25. Juli 1940 ging in die Schweizer Geschichte ein: General Henri Guisan liess damals im zweiten Jahr des Weltkrieges seine Offiziere auf dem Rütli zum Rapport antreten.
Vor genau 80 Jahren, am 25. Juli 1940, versammelten sich mehr als 600 hohe Offiziere der Schweizer Armee auf der historischen RütliwieseExterner Link im Zentrum der Schweiz am Ufer des Vierwaldstättersees. Sie waren per Geheimbefehl aufgeboten worden, um ihrem Oberbefehlshaber, General Henri Guisan, zuzuhören.
Der Anlass ging als Rütli-RapportExterner Link in die Geschichtsbücher ein. Was war das für eine Veranstaltung? Unter welchen Bedingungen wurde sie abgehalten? Was war ihr Zweck?
Geistige Landesverteidigung
Militärparaden existieren in der Geschichte so lange wie die Armee selbst. Doch der Rütli-Rapport nimmt in der Geschichte eine herausragende Stellung ein. Die Bedeutung dieses Ereignisses kann nur erklärt werden, wenn man es im Kontext des historischen Phänomens der Ideologie der Geistigen LandesverteidigungExterner Link zu lesen versucht.
Die Anfänge dieses Phänomens lagen in den 1920er-Jahren. In den 1930er-Jahren, besonders nach der Ernennung Adolf Hitlers zum deutschen Reichskanzler, begann diese Ideologie politisch zu werden. Sie verhalf der Schweiz in einer Zeit sozialer und kulturellen Spaltungen zu einer konservativen, nationalen überparteilichen Konsolidierung.
Ihr Programm skizzierte Bundesrat Philipp Etter in der «Botschaft über die Organisation und die Aufgabe der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung»Externer Link, die am 9. Dezember 1938 vorgelegt wurde.
Dieses Dokument setzte das sehr ehrgeizige Ziel, «in unserem eigenen Volke die geistigen Grundlagen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die geistige Eigenart unseres Landes und unseres Staates neu ins Bewusstsein zu rufen, den Glauben an die erhaltende und schöpferische Kraft unseres schweizerischen Geistes zu festigen und neu zu entflammen und dadurch die geistige Widerstandskraft unseres Volkes zu stählen».
Dort heisst es, dem deutschen völkischen Gedankengut widersprechend, weiter: «Der schweizerische Staatsgedanke ist nicht aus der Rasse, nicht aus dem Fleisch, er ist aus dem Geist geboren. Es ist doch etwas Grossartiges, etwas Monumentales, dass um den Gotthard, den Berg der Scheidung und den Pass der Verbindung, eine gewaltig grosse Idee ihre Menschwerdung, ihre Staatwerdung feiern durfte, eine europäische, eine universelle Idee: die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker und der abendländischen Kulturen.»
Wie ein Ei in einer gepanzerten Faust
Die wohl stärkste Manifestation dieser neuen Ideologie war die vierte Schweizer Landesausstellung von 1939 («Landi»Externer Link). Sie fand vom 6. Mai bis zum 29. Oktober in Zürich statt. Entscheidend aber war der militärische Faktor: Nach einem Abkommen mit Stalin und dem dadurch erst möglich gewordenen schnellen Sieg über Polen begann Hitler, Pläne für einen militärischen Feldzug gegen Frankreich zu entwickeln.
Derweil bereitete sich die Schweizer Armee auf die Landesverteidigung vor, indem sie in den Alpen das so genannte «Réduit»Externer Link errichtete, ein System unterirdischer militärischer Verteidigungsanlagen. Gleichzeitig knüpfte General Henri Guisan geheime Verbindungen zum französischen Oberkommando und sicherte sich so das Versprechen von Paris zu, den Schweizern im Fall eines deutschen Angriffs militärischen Beistand zu leisten.
Am 10. Mai 1940 begann Hitler eine Offensive in Westeuropa und überrollte die neutralen Staaten Belgien, Niederlande und Luxemburg. Der Schweizerische Bundesrat reagierte mit der Ankündigung der zweiten Etappe der allgemeinen Mobilmachung. Unterdessen setzten die Deutschen ihre Offensive fort. In der Schweiz nahmen Spannung und Nervosität zu. Gerüchte über eine bevorstehende Invasion verbreiteten sich rasend schnell in der Bevölkerung.
Die Schweiz blieb vom Krieg verschont. Dennoch war die Gefahr eines ernsten Konflikts mit Deutschland nicht von der Hand zu weisen. Tatsache ist, dass General Guisan den Befehl gab, ohne Vorwarnung das Feuer auf alle in den Schweizer Luftraum eindringenden Flugzeuge zu eröffnen.
Am 8. Juni 1940 kam es zu der vielleicht schwersten militärischen Auseinandersetzung zwischen deutschen und schweizerischen Kampfflugzeugen. Erst nach einer geharnischten deutschen Verbalnote wurde der Befehl erteilt, bis auf weiteres von jeglichen gegen Deutschland gerichteten militärischen Kamphandlungen im Schweizer Luftraum abzusehen. Am 22. Juni 1940 wurde der deutsch-französische Waffenstillstand unterzeichnet, am 24. Juni 1940 wurde die 12. deutsche Armee an die französisch-schweizerische Grenze verlegt, um einen Angriff auf die Schweiz vorzubereiten.
Der Befehl, die Grenze zu überqueren, wurde nie erteilt. Frankreich als eine schützende Kraft existierte jedoch nicht mehr. Die Schweiz war umzingelt, sie lag «wie ein Ei in einer gepanzerten Faust», wie Ernst Schürch, der Chefredaktor der Tageszeitung «Der Bund», treffend formulierte.
Ausserhalb veralteter Formeln
Die Behörden mussten sich drängenden Fragen stellen: Wird es einen Krieg geben? Wie geht es weiter mit der Schweiz? Am 25. Juni 1940 wandte sich der Schweizer Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz im Radio an die Nation. Die Rede war vom Gesamtbundesrat gutgeheissen worden. Er sagte, die Regierung wende sich an das Schweizer Volk, weil «ein gewaltiges Ereignis eingetreten» sei, nämlich die Niederlage Frankreichs.
«Bevor Europa wiederum zum Aufstiege gelangen kann, muss es ein neues Gleichgewicht finden, welches zweifellos sehr verschieden vom bisherigen und auf anderen Grundlagen aufgebaut sein wird.» In der Ansprache ging es auch darum, bereit sein zu müssen für «schmerzhafte Verzichte» und für «schwere Opfer bei der Anpassung an die neuen Verhältnisse ausserhalb veralteter Formeln».
Eher im christlichen Sinn als in jenem der «geistigen Landesverteidigung» sagte der freisinnige Bundespräsident und Aussenminister: «Der Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt ist gekommen. Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen.» Er versprach ferner «Ordnung und Arbeit», wenn die Eidgenossen mit «Opfergeist» und «Selbsthingabe» der Regierung folgten «als einem sicheren und hingebenden Führer, der seine Entscheidungen nicht immer wird erklären, erläutern und begründen können».
Die Bandbreite der Reaktionen auf die Rede war sehr gross. Sie reichte von Begeisterung bis hin zur totalen Ablehnung, da die wichtigsten Schweizer Werte wie Demokratie, Freiheit und Liberalismus tatsächlich mit keinem Wort erwähnt wurden. Als «nach innen autoritär, nach aussen servil» bezeichnete beispielsweise der konservative Politiker und spätere Bundesrat Markus Feldmann die Rede. Auch der Sozialdemokrat Robert Grimm meinte: «Über die Rede Pilets schweigt man wohl am besten und schämt sich.»
Heute erscheint die Haltung Pilet-Golaz› etwas verständlicher, da er damals wohl kaum bereit und in der Lage war – vor allem angesichts der Situation, in der sich die Schweiz 1940 befand –, mit kriegerischen Parolen um sich zu werfen. In der Armee aber provozierte diese Ansprache, wie Markus Somm in seiner Monografie erläutert, Wut und Irritation.
Auf dem Rütli
Die Armee hatte zunächst geplant, eine Reihe von Einzel-Rapporten mit hohen Offizieren durchführen. Diese Idee wurde aber verworfen. Offensichtlich hatte General Guisan vorgeschlagen, nur einen einzigen feierlichen Akt zu organisieren.
Aber in welchem Format? Und wo? In der Schweiz gab es damals keine Tradition von grossen Paraden. Auf der Rütliwiese jedoch schien es möglich zu sein, die Angehörigen des Offizierskorps zu versammeln, um sowohl offiziell als auch menschlich zu ihnen zu sprechen.
Die Wiese gilt als Gründungsort der Eidgenossenschaft: Hier soll der Legende nach das Bündnis der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden (Ob- und Nidwalden) geschlossen worden sein, der Rütlischwur.
Am 18. Juli 1940 wurde an Verbände und Einheiten der Schweizer Armee ein Geheimbefehl gerichtet, die Ankunft hochrangiger Militärangehöriger auf die «Prairie du Rütli» zu organisieren. Am 25. Juli 1940 wurden rund 600 Offiziere mit dem Dampfschiff «Stadt Luzern» von der gleichnamigen Stadt auf die Wiese transportiert.
Laut Markus Somm hätten die Nazis damals genug Zeit gehabt, die gesamte Führungsspitze der schweizerischen Armee mit einer einzigen Bombe auszulöschen. Aber die Schweiz hatte Glück.
Die Offiziere wurden auf dem Rütli in einem Halbkreis aufgereiht, mit Blick auf den See, die Berge und die historische Gotthard-Bergstrecke. Hinter ihnen wehte eine Schweizer Fahne. Musik gab es keine. Der General sprach frei.
Der Schweizer Historiker Willi Gautschi sah in dieser Rede eine symbolische Erneuerung des Rütlischwurs von 1291. Leider existiert keine genaue und zuverlässige Aufzeichnung dieser Rede, es gibt nur Rekonstruktionen.
Gemäss dem Historiker Georg Kreis soll Guisan unter anderem gesagt haben: «Ich habe Wert darauf gelegt, euch an diesem historischen Ort, auf dem für unsere Unabhängigkeit symbolischen Boden zu versammeln, um euch über die Lage zu orientieren und mit euch als Soldat zu Soldat zu reden. Es geht um die Existenz der Schweiz. Hier werden wir, die Soldaten von 1940, aus den Lehren und dem Geist der Vergangenheit Kraft schöpfen, um Gegenwart und Zukunft des Landes entschlossen ins Auge zu fassen und um einen geheimnisvollen Ruf zu vernehmen, der von dieser Wiese ausgeht. Indem wir klar in die Zukunft blicken, werden wir die immer gegenwärtigen Schwierigkeiten meistern, die schon der Bund von 1291 die Arglist der Zeiten nannte.»
Aber das wichtigste ist unbestritten: In seiner Rede rief General Henri Guisan die versammelten Truppenkommandanten entschlossen zu Zusammenhalt und Widerstand auf. Gleichzeitig erläuterte er erstmals die Idee des Réduit-Systems: Die Armee sollte in den schwer zugänglichen Alpenraum zurückgezogen werden, wobei die Beherrschung oder Zerstörung der Alpentransversalen als Faustpfand zu dienen hatten. Also, egal was Pilet-Golaz sagte, die Armee würde Widerstand leisten. Das musste einfach klar und deutlich kommuniziert werden.
Der Rückzug ins Réduit, der bereits mehrere Tage vor dem Rapport angelaufen war, war nicht unumstritten. Das Mittelland mit dem Grossteil der Schweizer Bevölkerung und der Industrie wäre dem Feind überlassen worden.
Das Alpenréduit stand auch erst Monate später wirklich bereit zur Verteidigung. Zudem protestierten die Achsenmächte gegen die öffentliche Kundgebung des Schweizer Generals. Sie befürchteten, dass er damit die öffentliche Meinung gegen sie aufhetzen würde.
«Historischer Glanz»?
Die Ansprache von Pilet-Golaz und die auf den Tag genau einen Monat später von General Guisan auf dem Rütli gehaltene Rede waren zwei historisch bedingte Erscheinungsformen eines und desselben Phänomens, der «Geistigen Landesverteidigung». Pilet-Golaz› Ansprache konzentrierte sich auf deren geistige Komponente, während sich die Rütli-Rede eher auf die Landesverteidigung fokussierte.
Als 1943 ein Bericht über die Entstehung der Idee des Réduit-Systems veröffentlicht wurde, war der Rütli-Rapport mit keinem Wort erwähnt worden. Es dauerte 20 Jahre, bis dieses Ereignis den nötigen «historischen Glanz» erhielt.
Am 25. Juli 1960 fand auf dem Rütli ein «zweiter Rapport» statt, an dem die Offiziere aus dem Jahr 1940 teilnahmen. Mit diesem Staatsakt sollte einerseits das Andenken an Henri Guisan gewürdigt werden, der erst kurz zuvor, am 7. April 1960, im Alter von 86 Jahren verstorben war.
Andererseits begann gerade in jener Zeit in der Schweiz eine ausgedehnte historische Debatte darüber, warum Hitler die Eidgenossenschaft schliesslich doch nicht angegriffen hatte. Dies markierte den Beginn einer umfassenden Krise der traditionellen Ideologie der «Geistigen Landesverteidigung».
2009 sagte der damalige Verteidigungsminister Ueli Mauer von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei an einem Gedenkanlass zur Kriegsmobilmachung vom 2. September 1939: «Die Entschlossenheit von Regierung und Volk, die schweizerische Neutralität gegen jeden Angreifer zu verteidigen, steht bisher ausser Zweifel.»
Er zitierte damit übrigens aus einem Dokument der damaligen deutschen Generalität. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass und warum diese Entschlossenheit nie wirklich getestet wurde, ist ein anderes Kapitel.
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