Weiterhin reizvoller Standort Schweiz
Zunehmender Mangel an bezahlbaren Wohungen und Häusern, immer weniger Plätze in internationalen Schulen, wachsende Unsicherheit bezüglich Steuerbelastung: Die Anziehungskraft der Schweiz auf ausländische Firmen droht sich abzuschwächen.
Angelockt von tiefen Steuern und hohem Lebensstandard, hat in den vergangenen Jahren ein steter Strom von ausländischen Unternehmen in Richtung Schweiz eingesetzt. Doch gibt es erste Anzeichen von Missmut seitens der Neuankömmlinge.
Grösster Kritikpunkt ist das astronomische Wachstum der Immobilienpreise in Genf, Zürich und Zug. Dieser Trend hat bereits viele Einheimische aus dem Markt geworfen. Die Gefahr wächst, dass nun auch Ausländern dasselbe Schicksal droht.
Das neue helvetische Eldorado habe eine zusätzliche Magnetwirkung entfaltet. «Es besteht das Risiko, dass diese Entwicklung in eine gesellschaftliche Krise führt», sagte kürzlich Emmanuel Fragnière von der Genfer HEG School of Business Administration gegenüber swissinfo.ch.
«Die Politiker sind zwar überglücklich über die zusätzlichen Steuereinnahmen. Doch bräuchte es eine kohärente Politik der Standortpromotion. Eine, die strukturelle Probleme miteinbezieht.»
Solche Probleme beginnen sich auch in Zug und im zwischen Genf und Lausanne gelegenen Rolle abzuzeichnen.
Undurchlässige Schweizer Schulen
«Niemand konnte sich vorstellen, was geschieht, wenn so viele Leute aus dem Ausland hier zur Arbeit kommen», sagt der sozialdemokratische Politiker Patrick Bréchon aus Rolle.
«Die Ausländer selbst kreieren nicht eigentlich lokale Arbeitsplätze. Der Haus- und Wohnungsmarkt gleicht einem Dschungel. Die Immobilienpreise sind unglaublich hoch geschossen. Und die Infrastrukturen wie Transport, Strassen und Schulen hinken wirklich hinterher.»
Einheimischen Klagen wird dadurch begegnet, dass Geschichten von ausländischen Expats feilgeboten werden, denen es offenbar ebenso schwer falle, sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden. So befragte das englische Wirtschaftsmagazin The Economist Neuankömmlinge in der Schweiz, die sich über Langeweile und das Platzdefizit in internationalen Schulen beklagen.
«Um Ihre Kinder in internationalen Schulen zu platzieren, brauchen Sie schon rechte Muskeln!», sagt ein Finanzier, der seinen Namen nur mit Alex angeben will. «Und wenn nicht, dann bleibt nur noch eine schweizerische Schule. Aber da wird sich ein ausländisches Kind nur schwer integrieren.»
Andere Expats haben Schwierigkeiten, sich an die vergleichsweise strengeren Schweizer Lärm- und Abfallvorschriften zu gewöhnen.
Auch der Genfer Standort-Experte François Micheloud stimmt überein, dass der starke Zufluss von ausländischen Firmen und Mitarbeitenden zu strukturellen Problemen geführt habe. Diese seien dann aber durch bereits bestehende Probleme, wie die langsame Planung und die komplizierten Bauvorschriften, noch verschärft worden.
Steuerliche Unsicherheit
Micheloud ist überzeugt, dass es Lösungen gäbe – zum Beispiel mit der Einzonung von ländlichen Zonen nördlich von Lausanne oder sonstwo im Kanton Waadt.
«Wir sind nicht wie Monaco ein Stück Felsen, auf dem nicht mehr gebaut werden kann», sagt er. «Flaschenhälse liessen sich neutralisieren, indem man den Unternehmen erlaubt, in andere Gegenden auszuweichen, die ebenfalls in Reichweite des Flughafens Cointrin liegen.»
Das vielgerühmte wettbewerbsstarke Schweizer Steuersystem kommt langsam ebenfalls unter Druck der EU-Behörden. Die Schweizer Fiskalbehörden haben durchsickern lassen, dass das Unternehmenssteuersystem umgestaltet werden könnte, um der EU entgegen zu kommen. Nur weiss niemand genau, wie dies aussehen müsste.
«Unternehmen, die sich einen Domizilwechsel in die Schweiz überlegen, sollten wissen, mit was für Steuergesetzen sie zu rechnen haben», sagt Steuerexperte Stephan Kuhn von Ernst & Young. «Sie würden ja nicht in die Schweiz kommen, wenn das Steuersystem hier nicht einschätzbar bleibt oder bald einer grösseren Belastung ausgesetzt ist.»
Im Vereinigten Königreich verbliebene Unternehmen wiederum erhielten letzte Woche eine gute Nachricht, als die englische Regierung mitteilte, die Steuersätze für die kommenden drei Jahre würden um zwei Prozent zurückgenommen – einen vollen Prozentpunkt mehr als angenommen.
Die Anreize bleiben
Diese Ankündigung veranlasste den englischen Werbegigant WPP, sein Steuerdomizil von Irland, wohin er erst kürzlich umgezogen ist, wieder zurück nach England zu verlagern.
Andrew Witty, CEO des Pharmakonzerns GlaxoSmithKline, hat jüngst in einem Interview gegenüber dem British Observer englische Unternehmen, die günstigeren Steuerdomizilen nachrennen, gerügt. Sie würden damit ihre Bindung zur Gesellschaft kappen: «Wir können theoretisch überall hin auslagern, wo die Steuersätze tiefer liegen. Doch wer garantiert uns, dass das betreffende Land nicht innert zehn Minuten die Sätze dann doch erhöhen wird?»
Wie auch immer: Der neue britische 23-prozentige Steuersatz wird immer noch höher sein als mancher Schweizerische. Je nachdem, wo in der Schweiz die Unternehmung ihren Sitz hat, beläuft sich der kombinierte Bundes- und Kantonalsteuersatz zwischen 14 und 24,5%.
Deshalb bleibt Micheloud überzeugt, dass Firmen noch «für viele Jahre» in Richtung Schweiz auslagern werden.
«Die Anreize für Unternehmen, in die Schweiz zu kommen, bleiben dieselben wie bisher: Wettbewerbsfähige Steuersätze, ausgezeichnete Transport-Infrastrukturen, ein innerhalb Europas zentraler Standort, Zugang zu einem Arbeitsmarkt mit qualifizierten Arbeitskräften, konzentrierte Business-Kompetenz und eine flexible Arbeitsgesetzgebung.»
«Kurz: Die Schweiz bleibt weiterhin ein reizender Standort zum Leben.»
Tiefe Unternehmens-Steuern, hohe Lebensqualität, qualifizierte Arbeitskräfte, ausgezeichnete Infrastrukturen, zentraler Standort und ein gut etablierter Finanzplatz sind die hauptsächlichen Gründe, weshalb die Schweiz als Magnet für ausländische Unternehmen gilt.
Viele ausländische Firmen haben in den vergangenen Jahren ihren Hauptsitz oder andere Aktivitäten in die Schweiz verlegt.
Unter anderem Google, Philip Morris, Caterpillar, Chiquita, Ebay und Dow Chemicals.
Dazu stiessen kürzlich Rückversicherer, die sich vor den Attacken der USA auf ihre karibischen Sitze retteten, und Rohstoff-Firmen.
Rohstoff-Handelsfirmen wie
Transocean, Rosneft oder Bashneft haben in den vergangenen Monaten entweder ihre Aktivitäten bereits hierher verlegt oder denken daran, es zu tun.
Gemäss Ernst & Young, Neuchâtel, beläuft sich der höchste kombinierte kantonale und Bundessteuersatz auf 24,5%.
(Übertragung aus dem Englischen: Alexander Künzle)
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