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«Kritisches Denken fördern, um Extremismus zu bekämpfen»

Sowohl Rechts- wie Linksextremismus sind in der Schweiz auf dem Vormarsch. Keystone / Jens Meyer

Junge Schweizerinnen und Schweizer tendieren eher zum Linksextremismus als zum Rechtsextremismus oder zum Islamismus. Was ist ihr Profil? Und: Wie kann ein Abgleiten in den Extremismus verhindert werden? Ein Gespräch mit Sandrine Haymoz, Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg.

Die geplante Verschärfung des Strafrechts zur Terrorismusbekämpfung in der Schweiz ist umstritten. Doch welche extremen Ideologien sind in dem Land am verbreitetsten? Medien berichten viel über islamistischen Extremismus. Doch haben Links- und Rechtsextremismus mehr Anhänger und Anhängerinnen.

Eine Studie der Hochschulen für Soziale Arbeit in Freiburg und Zürich analysierte 2017 die Entwicklung des Extremismus unter Jugendlichen in der Schweiz. Insgesamt 8317 Jugendliche im Alter zwischen 17 und 18 Jahren aus zehn Kantonen nahmen an der Umfrage teil.

Sandrine Haymoz ist Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit in Freiburg und eine der Autorinnen der Studie. Sie findet, dass Jugendliche stärker in den demokratischen Prozess eingebunden werden sollten.

Die Schweizer Regierung will sich neue Instrumente zur Bekämpfung des Terrorismus geben. Ein zweiteiliges Projekt wird derzeit im Parlament diskutiert.

Das künftige Anti-Terrorismus-Gesetz sieht einerseits eine ganze Reihe von polizeilichen Massnahmen vor, um bei den ersten Anzeichen einer Radikalisierung handeln zu können. Diese Massnahmen wären ausserhalb von Strafverfahren anwendbar, einige würden bereits ab dem Alter von zwölf Jahren gelten.

Der Entwurf sieht zudem vor, das Strafrecht und die internationale Zusammenarbeit gegen den Terrorismus zu stärken. Unter anderem soll eine neue Strafbestimmung eingeführt werden, welche die Anwerbung, Ausbildung und Reise zum Zweck eines terroristischen Akts unter Strafe stellt.

Viele NGOs haben sich gegen das Gesetz ausgesprochen. Und nicht nur diese:  Experten im In- und Ausland, das Büros des UNO-Hochkommissars für Menschenrechte und die Menschenrechtskommissarin des Europarates kritisierten den Entwurf.

swissinfo.ch: Welche Formen von Extremismus sind unter Jugendlichen in der Schweiz am weitesten verbreitet?

Sandrine Haymoz: Der Linksextremismus verzeichnet am meisten Zulauf. Unsere Umfrage ergab, dass 7% der befragten Jugendlichen als Linksextremisten bezeichnet werden können. Sie sind es auch, welche die meisten Gewalttaten begehen, zum Beispiel Vandalismusakte gegen multinationale Unternehmen. 5,9% der Befragten können dem Rechtsextremismus zugeordnet werden, 2,7% dem Islamismus.

Der islamistische Extremismus erregt am meisten Aufmerksamkeit. Warum ist das so?

Das ist in der Tat paradox. Kommt es zu einem islamistischen Anschlag, ist dieser aber leider meist sehr gewalttätig und fordert viele Opfer. Deshalb wird mehr darüber berichtet.

An welchem Punkt wird eine Ideologie problematisch?

Problematisch und extremistisch wird eine Ideologie dann, wenn man keine von den eigenen Ansichten abweichende Meinungen toleriert. Und wenn man anderen den eigenen Standpunkt aufzwingen will, notfalls mit Gewalt.

Wir haben in unserer Studie zwei wesentliche Elemente bei der Definition von Extremismus berücksichtigt: die Ablehnung der Demokratie und ihrer Grundrechte sowie die Akzeptanz oder Anwendung von Gewalt zur Errichtung eines neuen Zustands. Um als Extremist zu gelten, muss ein Jugendlicher nicht unbedingt zur Tat schreiten.

Welches ist das typische Profil eines jungen Menschen, der sich von extremen ideologischen Strömungen angezogen fühlt?

Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass es sich mehrheitlich um männliche Jugendliche handelt. Psychologisch gesprochen verfügen die meisten von ihnen über ein geringes Mass an Selbstbeherrschung. Das heisst, sie sind impulsiv und zeigen eine grosse Risikobereitschaft.

Wir haben zudem festgestellt, dass sie nicht viel von moralischen Werten halten. Auch sind sie sehr unzufrieden mit der Demokratie und haben wenig Vertrauen in die Institutionen unseres Landes. Schliesslich spielen praktisch alle gewalttätige Videospiele oder schauen sehr gewalttätige Filme.

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Gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen des Extremismus?

Ja. Linksextremisten beispielsweise, hatten oft Schwierigkeiten in der Schule und nicht wenige wurden Opfer elterlicher Gewalt. Rechtsextreme und islamistische Extremisten haben mehr Gemeinsamkeiten. Sie haben atypische Persönlichkeiten, sind oft autoritär, neigen zu Homophobie und nutzen männliche Merkmale, um Gewalt zu legitimieren.

Wo findet die Radikalisierung dieser jungen Menschen statt?

Am häufigsten erfolgt die Radikalisierung im Internet oder durch den Kontakt mit Freunden. Sie beginnen sich zu informieren, interessieren sich für extreme Inhalte und übernehmen diese Ansichten. Im Links- oder Rechtsextremismus spielt auch die Familie eine Rolle.

Welche Lösungen gibt es, um einen Extremisten wieder zu demokratischeren Haltungen zu bringen?

Wir haben festgestellt, dass junge Extremisten extrem viele Medien, Websites und extremistische Musik konsumieren. Deshalb ist es wichtig, ihnen Zugang zu alternativen Diskursen zu verschaffen, ihnen zu zeigen, dass es andere Denkweisen gibt. Extremisten haben sehr eingeschränkte Ansichten und tolerieren keine Meinungen, die von den ihren abweichen.

Prävention muss deshalb über die Stärkung von kritischem Denken, Empathie, Respekt und Zusammenleben geschehen. Auch muss die Offenheit gegenüber anderen Menschen, anderen Kulturen und Religionen gefördert werden. Schliesslich kann man auch an der Selbstkontrolle arbeiten.

Das mag selbstverständlich klingen. Einige Kinder haben aber nicht die Möglichkeit, sich diese Fähigkeiten anzueignen. In Familien, in denen es zu Gewalt kommt, lernen Kinder, dass Probleme durch Gewalt gelöst werden. Andere Möglichkeiten kennen sie nicht. Es ist deshalb wichtig, ihnen alternative Wege zur Lösung von Problemen aufzuzeigen. 

In Ihrer Studie sind Sie auch zum Schluss gekommen, dass junge Extremisten mit dem System der Schweizer Demokratie nicht zufrieden sind. Müssen wir ihr Vertrauen in die politischen Institutionen wiederherstellen?

Ja, auch hier können wir ansetzen: Sie sollten sich stärker an der Demokratie beteiligen können. Sie brauchen mehr Plattformen, auf denen sie sich ausdrücken können. Wir sollten sie mehr zu Wort kommen lassen.

Im Jahr 2018 wurden dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB) 53 Ereignisse im Bereich des gewalttätigen Rechtsextremismus bekannt, dreimal so viele wie im Vorjahr. 226 waren es im Bereich des gewalttätigen Linksextremismus, was einem Anstieg von 13% entspricht. Was den islamistischen Extremismus anbelangt, ist das Terrorrisiko für die Schweiz laut NDB nach wie vor hoch. Die wahrscheinlichste Bedrohung sind Anschläge mit geringem logistischem Aufwand.

(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)

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