Coronakrise: Chance für nachhaltigen Tourismus
Die Schweizer Tourismusbranche steht vor grossen Herausforderungen. Das Reise- und Buchungsverhalten der Schweizerinnen und Schweizer hat sich wegen Covid-19 stark verändert. Aurelia Kogler, Professorin für Tourismus, sieht darin die Chance für nachhaltigeres Reisen.
swissinfo.ch: Welche Veränderungen im Verhalten von Touristinnen und Touristen haben Sie festgestellt?
Aurelia Kogler: Die Schweizerinnen und Schweizer machen jetzt Ferien in der Schweiz. Das ist etwas, worauf die Branche immer zielgerichtet hingearbeitet hat. Und jetzt sehen wir, dass Covid-19 und die damit einhergehenden Einschränkungen offenbar ein Nachfrageverhalten gebracht haben.
Dank der Schweizer Touristinnen und Touristen konnte die Sommersaison in der Schweiz doch noch gerettet werden. Für den Tourismus in der Schweiz war die Sommersaison für alpine Destinationen viel besser als befürchtet. Doch gilt das für die Tourismus-Anbieter in den Städten überhaupt nicht. Zu leiden haben auch all jene Anbieter, die von Grossveranstaltungen leben oder abhängig sind.
ist Professorin für Tourismus und Freizeitwirtschaft am Zentrum für wirtschaftspolitische Forschung der Fachhochschule Graubünden.
Als studierte Betriebsökonomien der HEC Paris und ausgebildete Ingenieurin ist Kogler an der Schnittstelle von Tourismus, Freizeitwirtschaft und Landschaft tätig.
Was haben Sie weiter beobachtet?
Die Nachfrage nach Ferienwohnungen und Ferienhäusern ist in diesem Sommer überproportional gewachsen. Das dürfte natürlich zum einen mit Abstand- und Hygieneregeln und zum anderen auch mit dem entsprechenden Sicherheitsbedürfnis der Reisenden zu tun haben.
Was wir auch gut beobachten können, ist, dass der gesamte Markt für Fernreisen komplett zusammengebrochen ist. In manche Länder können wir derzeit nicht reisen, aufgrund von Einreiseverboten oder weil es schlicht und einfach keine Flüge dorthin gibt. Andere Länder können wir nur mit einem gewissen Risiko und vielen Auflagen bereisen, so dass wir uns fragen müssen: «Will ich das denn überhaupt?»
Die Schweizerinnen und Schweizer sind ja als Vielflieger bekannt…
Ja, die Schweizerinnen und Schweizer reisen sehr gerne ins Ausland. Das hat sich komplett verändert.
Wenn wir versuchen, der Situation trotz der Dramatik etwas Positives abzugewinnen: Aktuell ist unser Reiseverhalten durch die Pandemie nachhaltiger geworden. Ob dieses Verhalten über die Pandemie hinauswirkt, wird sich zeigen. Aber aktuell freut sich die Umwelt über weniger Flugreisen und kleinere geografische Distanzen, die zurückgelegt werden.
Könnte die Krise der Startschuss für einen nachhaltigeren Tourismus sein?
Nachhaltiger Tourismus ist ein Thema, das jahrzehntelang in einer Nische angesiedelt war. In den letzten Jahren hat das Thema Nachhaltigkeit an Stellenwert gewonnen, es ist nicht mehr nur in vielen Gesetzen verankert sondern auch salonfähig geworden. Nun hat Covid-19 tatsächlich zu einem Umdenken und einer – zumindest temporären – Verhaltensänderung geführt.
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Renaissance der Bergdörfer
Könnte dieser Trend anhalten?
Als Touristiker sind wir natürlich gespannt, ob uns ein Teil dieses Verhaltens in die Reise-DNA übergeht. Und dass wir in Zukunft vielleicht etwas weniger gedankenlos sind, wenn es darum geht, ein Wochenende dahin und eines dorthin zu fliegen, einfach weil wir es können.
Wir dürfen auch hoffen, dass die Sommerferien in den Bergen dauerhaft stark nachgefragt werden. Wenn wir sehen, wie viele Familien während der Schulferien in den Bergen unterwegs waren, ist zu hoffen, dass diese gesehen haben, wie attraktiv es in den alpinen Destinationen ist und die Kinder dann sagen: «Da will ich wieder hin!»
Das ist eine grosse Chance für den alpinen Tourismus. Wir dürfen aber nicht ganz ausser Acht lassen, wie schnell wir vergessen. Bei Corona geht das alles aber tiefer, die ganze Welt ist in fast allen Lebensbereichen mehr oder weniger schwer betroffen, und es kann schon sein, dass hier manche Verhaltensänderung länger nachwirkt, vielleicht sogar dauerhaft.
Welche Fragen stellt sich die Forschung im Bereich Touristik?
Am drängendsten ist derzeit die Frage, wie die Wintersaison wird und was wir tun können, damit sie gut wird. Wir stehen in intensivem Kontakt mit Destinations- und Tourismusverantwortlichen. Da erhalten wir den Eindruck, dass die Buchungen für den Winter doch sehr zögerlich eingehen. Die Menschen warten ab, was kurzfristig passiert. Dieses Buchungsverhalten ist natürlich menschlich und absolut nachvollziehbar.
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Dank Digitalisierung in den Bergen leben und arbeiten
Externer LinkHaben Sie noch andere Veränderungen durch Covid-19 beobachtet?
Ein weiteres Thema, das uns in Zukunft wohl stark beschäftigen wird, ist das veränderte Arbeitsverhalten, Stichwort Homeoffice. Das dürfte einerseits zu einer Veränderung im Markt für Büroimmobilien führen und Auswirkungen auf die Agglomerationen haben. Gleichzeitig könnten die Menschen auch in ländlichen, entlegeneren und strukturschwächeren Regionen leben und arbeiten, ohne pendeln zu müssen.
Die Frage ist dabei – um wieder zum Tourismus zurückzukommen –, ob das eine Chance für touristische Destinationen ist und ob sich daraus neue touristische Produkte und Lösungen entwickeln lassen.
Wenn man aus beruflichen Gründen nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden ist, möchten sich viele Menschen vielleicht näher an der Natur beziehungsweise auf dem Land aufhalten. Hier sehen wir Chancen, touristische Destinationen aber auch strukturschwächere, ländliche Regionen mittel- und langfristig zu stärken. Dabei stehen wir aber noch ziemlich am Anfang.
Denken Sie, dass die Coronakrise langfristige Auswirkungen auf den Tourismus haben wird?
Ja. Es trifft einerseits Unternehmen, die mit einer sehr dünnen Eigenkapitaldecke arbeiten. Hier wird es wahrscheinlich zu Flurbereinigungen kommen. Wir wissen auch noch zu wenig darüber, wie sich die allgemeine wirtschaftliche Situation in Europa konkret weiterentwickeln wird, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Arbeitslosenzahlen in den Hauptquellmärkten haben wird. Steigende Arbeitslosigkeit ist eine der grossen Gefahren für den Tourismus, nicht nur in der Schweiz.
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