Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Den Armen das Wort geben

Wer ohne festen Wohnsitz ist, sucht sich eine andere Bleibe,wie hier am Genfer Bahnhof. Keystone

Der 17. Oktober ist der Welttag zur Überwindung der Armut. Ein guter Anlass, daran zu denken, dass arm sein auch in der Schweiz keine Schuldfrage ist.

Obwohl hier rund 1 Million Menschen davon betroffen sind, ist Armut ein schwieriges Thema. Anstatt Hilfe in Anspruch zu nehmen, verschliessen sich viele, bleiben mit ihrer Armut allein.

“Die Bekämpfung der Armut geht alle an – jeden Tag.” Mit diesem Slogan wollen karitative Organisationen die Bewohner der Schweiz daran erinnern, dass auch hier Armut existiert. Auf der Strasse, aber auch zuhause.

Am Tag der Bekämpfung der Armut, der bereits zum 20. Mal stattfindet, wollen Caritas Schweiz, die Schweizer Sektion von ATD Vierte Welt, die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe, das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz und das Schweizerische Arbeiterhilfswerk über die Armut sprechen. Sie wollen die Betroffenen zu Wort kommen lassen.

“Wir wollen den Opfern dieser Misere eine Stimme geben, damit sie ihr tägliches Leben darstellen und der Bevölkerung mitteilen können, wie sie von der Gesellschaft unterstützt werden möchten”, sagt Olivier Gerhard, nationaler Koordinator des Anlasses, gegenüber swissinfo.

Die Strafe arm zu sein

Gemäss Schätzungen von Caritas Schweiz sind in der Schweiz rund 1 Million Menschen von Armut betroffen. Dazu gehören oft alleinerziehende Väter und Mütter, Familien mit vielen Kindern. Sie trifft aber auch Alleinstehende und junge Menschen.

Auch 250’000 Kinder leben in Armuts-Verhältnissen sowie viele alte Menschen, die eine zu magere Altersrente beziehen.

“Das Problem der Armut ist in unserem Land sehr bedeutend”, sagt Gerhard, der auch der Schweizer Sprecher von ATD – Vierte Welt ist. “Wenn man nicht darüber spricht, glauben viele Schweizerinnen und Schweizer, dass sie hierzulande gar nicht existiert.”

Aber wie soll man auf ein Problem aufmerksam machen, das eine von sieben Personen in der Schweiz betrifft? “In der reichen Schweiz empfinden es viele Menschen als Schande, zuzugeben, dass sie auf Hilfe angewiesen sind”, antwortet Caritas-Sprecherin Cathy Flaviano.

“Hier ist eine Armut, die man nicht so ohne weiteres wahrnimmt. Es sind zum Beispiel die Working Poors, die trotz Arbeit nicht genug verdienen”, fügt sie hinzu.

Gegen den sozialen Ausschluss

Zu diesem 17. Oktober haben wichtige karitative Organisationen der Schweiz eine gemeinsame Erklärung verfasst. Der Appell richtet sich an alle, Widerstand zu leisten gegen Ungerechtigkeiten bei Armutsbetroffenen.

“Wir weisen zurück, dass man die Ärmsten beschuldigt, Profiteure zu sein. In der Schweiz herrscht leider die Meinung vor, dass viele von der Sozialhilfe leben, obwohl sie das nicht nötig hätten”, wird erklärt.

Es gebe genügend Daten, welche diese Hypothese widerlegten, fügt Olivier Gerhard hinzu. “Wir schätzen, dass bis 450’000 Personen einen Anspruch auf soziale Wohlfahrt anmelden könnten. Aber nur rund die Hälfte hat den Mut, nach Hilfe zu fragen.”

Verhinderung, Unterstützung und Integration

Um auf die Thematik hinzuweisen, hat Caritas kürzlich ein Buch über die Armut in der Schweiz veröffentlicht.

Das Hilfswerk führt drei prioritäre Bereiche an für den Kampf gegen das Elend: “Es braucht dazu eine bessere schulische Ausbildung, die Unterstützung gefährdeter Familien und die Förderung der sozialen Integration der Bedürftigen”, sagt Cathy Flaviano.

“Am sichersten wird das Elend bekämpft, indem man vermeidet, arm zu werden.”

swissinfo, Luigi Jorio
(Übertragung aus dem Italienischen: Etienne Strebel)

Der Welttag zur Überwindung der Armut, der 17. Oktober, wird von verschiedenen Ländern und Städten seit 1987 begangen.

Der Anlass wurde vom polnischen Geistlichen Joseph Wresinski initiiert, dem Gründer der Organisation ATD Vierte Welt.

1992 wurde der Tag offiziell von der UNO anerkannt.

Für diese 20. Auflage werden in der Schweiz Kundgebungen und Debatten stattfinden. So in Genf, Lausanne, Luzern, Binningen und Liestal (Baselland).

2004 hat die Schweizerische Sozialhilfekonferenz festgelegt, dass Personen als arm gelten, die weniger als 2480 Fr. im Monat verdienen (nach Abzug von Sozialversicherungen und Steuern).

Für Paare mit zwei Kindern wurde die Grenze bei 4600 Fr. gezogen.

Aufgrund dieser Zahlen schätzt Caritas, dass es in der Schweiz rund 1 Mio. Arme gibt (ein Siebtel der Bevölkerung).

Die Armut betrifft 250’000 Kinder, 604’000 Personen zwischen 19 und 64 Jahren und 196’000 Pensionierte.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft