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Der «Sonderfall Schweiz» ist bald Geschichte

Sonderfall Schweiz: Diesem Thema geht eine Sonderbeilage des britischen Wirtschaftsmagazins "The Economist" nach. swissinfo.ch

Die direkte Demokratie ist der schweizerische Exportschlager. In vielen anderen Bereichen hat sich die Schweiz jedoch den anderen Ländern angeglichen.

Dies ist das Fazit einer Sonderbeilage des Wirtschaftsmagazins «The Economist» zum Thema Sonderfall Schweiz, die am Freitag erscheint.

Was macht die Schweiz aus? Ist sie so viel anders als andere Länder? Während einiger Monate hat Barbara Beck, Leiterin der Abteilung Sonderbeilagen beim renommierten britischen Wirtschaftsmagazin «The Economist», mit Politikern, Akademikern, Wirtschafts- und Behördenvertretern in der Schweiz gesprochen.

Beck ist nicht vorbelastet. Sie hat die Schweiz vor ihrer Studie nicht gekannt und konnte sie daher mit einer «freien Sicht aus der Vogelperspektive» beobachten, wie sie es nennt.

Klischees sind wahr

«All die Klischees sind im Grunde wahr», sagt sie im Gespräch mit swissinfo. «Es ist wirklich so, dass in der Schweiz alles funktioniert: Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren, wann das von ihnen erwartet wird, die Leute sind pünktlich, höflich und tüchtig.» Doch dies sei nur ein Aspekt.

Denn in vielen Bereichen habe sich die Schweiz in den vergangenen Jahren den anderen Ländern angeglichen. So gelte die Schweiz heute nicht mehr als so sauber, wie vor dem Debakel um das Nazigold und die jüdischen Vermögen.

Auch die Schweiz habe einige Tiefschläge erlitten, die an ihrem Image gekratzt hätten. Als Beispiele nennt Beck die Pisa-Studie (mittelmässige Schüler), die Arbeitslosigkeit von 4%, das Swissair-Grounding und die Unglücksfälle im Gotthard und in Überlingen (Flugzeug-Zusammenstoss unter Schweizer Kontrolle).

Ausserdem sei die Schweiz nicht mehr das reichste Land der Welt, und die Staatsquote würde zunehmen, was zu höheren Steuern führe. Alles Gründe, warum die Schweiz nicht mehr so speziell wir früher sei.

Exportschlager direkte Demokratie

In einem Punkt allerdings bleibe die Schweiz weiterhin ein Sonderfall: «Was ich am wichtigsten fand und mich am meisten beeindruckt hat, war das politische System und die Art und Weise, wie das alle anderen Lebenssparten durchdringt.»

Sie spricht damit das System der direkten Demokratie an, welches die Schweiz seit über hundert Jahren kennt. Hier könne die Welt durchaus etwas von der Schweiz lernen, so Beck.

«Ich würde ganz gerne sehen, dass dieses schweizerische System der direkten Demokratie und des Föderalismus auch anderswo aufgegriffen wird.»

Eine Idee, welche auch der Publizist Roger de Weck unterstützt. «Es gibt in Europa immer mehr Interesse für die direkte Demokratie», sagte der Moderator einer Podiumsdiskussion anlässlich der Veröffentlichung der Sonderbeilage.

Doch de Weck gab zu bedenken, dass sich eigentlich jedes Land als «etwas ganz Spezielles» sehe. «Wir sollten keinen Kult der Besonderheit machen. Identität ist, wenn man so ist, wie man ist.»

Langwierige Prozesse

Aymo Brunetti, Chefökonom im Staats-Sekretariat für Wirtschaft (seco) wies aber auch auf die Nachteile der direkten Demokratie hin: «Neben einem innovativen und integrativen Element hat natürlich die direkte Demokratie auch ein sehr konservatives Element: Es ist sehr schwierig, Veränderungen durchzuführen.»

Solche Veränderungen hätte die Schweiz dringend nötig, um wieder zur Weltspitze aufzuschliessen, so die Studie. Beck hat festgestellt, dass diese Reformen nur langsam voranschreiten. «Aber wenn es langsam geht, dann wird es endlich gut.»

Nicht bereit für Brüssel

Weiterhin ein Sonderfall ist die Schweiz natürlich im Bezug zu Europa. «Ich war mit der Vorstellung hierher gekommen, dass es eigentlich lächerlich ist, dass die Schweiz als kleiner Punkt in der Mitte der EU alleine steht», so Beck.

Doch bald schon habe sie gemerkt, dass das Land gegenwärtig «wirtschaftlich auch ohne Mitgliedschaft auskommt». So sei der starke Schweizer Franken ein grosser Vorteil.

Auch aus politischer Sicht sei ein Beitritt derzeit schwierig. Föderalismus und direkte Demokratie würden dabei wohl auf der Strecke bleiben, so die Studienleiterin. «Die Schweiz müsste sich nach dem richten, was in Brüssel entschieden wird. Und dazu ist sie wohl nicht bereit.»

Was sie aber erstaunt habe, sei die Kultur der politischen Debatte, die in den letzten Jahren frappant an Härte zugenommen habe. Ihr Fazit: «In diesem Sinn habt ihr den EU-Beitritt bereits vollzogen.»

swissinfo, Christian Raaflaub

Die Schweiz ist in vieler Hinsicht kein Sonderfall mehr. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des renommierten britischen Wirtschaftsmagazins «The Economist».

Auch die Schweiz habe sich der immer schnelleren Entwicklung in Wirtschaft und Politik nicht verschliessen können und habe einiges von ihrem früheren Image eingebüsst.

In einem Punkt allerdings könne die Welt etwas von der Schweiz lernen: Die Mischung von direkter Demokratie und Föderalismus sei weltweit einmalig.

Allerdings weist die Studie auch auf Schwächen des Systems hin. So seien die politischen Prozesse oft langwierig und konservativ.

Ein EU-Beitritt der Schweiz ist für Barbara Beck, Leiterin der Studie, zur Zeit weder aus ökonomischer noch aus politischer Sicht nötig.

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