Die kritischen Patrioten
Ob Liebe, Abenteuer oder Karriere - Gründe, die Heimat zu verlassen, gibt es viele: Ein neues Buch porträtiert 20 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer.
Rund 600’000 Menschen mit einem roten Pass leben heute im Ausland – Tendenz steigend.
«Ich würde mich nicht als Patriotin bezeichnen. Höre ich jedoch am 1. August in der Schweizer Botschaft die Nationalhymne, fühle ich ein Würgen im Hals und muss meine Tränen zurückhalten.»
Wie Irma Mishellany-Isenegger, die seit bald 30 Jahren in Ost-Beirut, Libanon, lebt, geht es vielen Schweizerinnen und Schweizern, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt haben.
Die Heimat
Alle 20 Menschen im Alter zwischen 10 und 96 Jahren, die Philipp Dreyer in seinem Buch «Über den Tellerrand hinaus» porträtiert hat, sind in irgendeiner Art mit der Schweiz verbunden, auch wenn sie den Begriff Heimat ganz unterschiedlich definieren.
Ist Heimat für den einen etwas Abstraktes, liegt sie für die andere dort, wo man lebt, und für den dritten ist sie identisch mit dem Ursprungsland.
Der 75-jährige René Boser hat seinen Wohnsitz vor vielen Jahren zusammen mit seiner Frau nach Südfrankreich verlegt. Er vermisst manchmal kulinarische Leckerbissen aus der Schweiz, zum Beispiel Birnenbrot, Saucisson oder Fondue. «Patriotismus geht bei mir auf eine gewisse Weise durch den Magen.»
Erich J., 61, lebt in Riga, Lettland und sehnt sich ab und zu nach einem Stück Schweizer Käse oder einem Landjäger. Aber nicht nur: «Ich vermisse auch, wieder einmal barfuss in einen feuchten und warmen Kuhfladen zu treten und zu spüren, wie dieser zwischen meine Zehen rinnt.»
Kritische Betrachter aus der Ferne
Dem Autor Philipp Dreyer, der bereits ein Buch über jüdische Jugendliche in der Schweiz und ein weiteres über muslimische Jugendliche in der Schweiz veröffentlicht hat, ist es nicht leicht gefallen, unter den weit über 100 Mails und Briefen eine Auswahl zu treffen.
«Ich wollte junge und alte Auslandschweizer porträtieren, Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen die Schweiz verlassen haben. Sei das, weil sie der Enge der Heimat entfliehen wollten oder dem Ruf der Liebe folgten oder die Schweiz aus purer Abenteuerlust verliessen.»
Entstanden ist ein Buch mit spannenden und ergreifenden Lebensgeschichten aus der grossen weiten Welt, ein Querschnitt durch die so genannte Fünfte Schweiz. Interessiert hat sich Dreyer vor allem für das Thema Identität und den Begriff Heimat.
Und obwohl alle gerne an die Schweiz zurückdenken und die meisten von ihnen die Schweiz auch immer wieder besuchen oder gar von ihr träumen, äussern viele auch kritische Gedanken in Bezug auf ihr Heimatland.
Laut Kurt W. Eicher, der seit 16 Jahren in Istanbul lebt, betrachten die Auslandschweizer die Schweiz aus einer anderen Sicht als die Inlandschweizer:
«Ich würde mich als kritischen Patrioten bezeichnen. Als einen, der die Schweiz ändern und auf die Höhe der heutigen Zeit bringen möchte.»
Auf der Suche nach dem Glück
Warda Bleser-Bircher ist 97-jährig und verbrachte 40 Jahre ihres bewegten Lebens in Kairo. Sie schätzt die Sicherheit und Ordnung in der Schweiz. «Etwas Mühe bereitet mir jedoch, dass sich viele Schweizer als Musterschüler Europas fühlen. Sie glauben oft, alles besser zu wissen.»
Und Edmond Remondino, 68 Jahre alt, wohnt seit vielen Jahren in Bujumbura, Burundi. Und ist glücklich dort: «In Burundi existieren weder Altersheime noch eine Migros. Ich habe nichts gegen die Migros, aber etwas gegen dieses Überangebot.»
Ob die porträtierten Schweizerinnen und Schweizer in ihrer Wahlheimat wirklich glücklich sind, darauf hat Philipp Dreyer keine eindeutige Antwort. Ihn hätten vor allem die Zufälle fasziniert, dass man aus irgendwelchen Gründen die Schweiz verlässt und anderswo sein Leben lebt.
«Ich denke, jeder hat auf seine Art sein Glück gefunden.»
swissinfo, Gaby Ochsenbein
Rund 600’000 Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland.
Die grösste Kolonie befindet sich in Frankreich mit 158’000 Auslandschweizern.
In Deutschland leben 68’000 Schweizer Staatsangehörige.
In den USA knapp 70’000.
«Über den Tellerrand hinaus» von Philipp Dreyer ist im Orell Füssli Verlag erschienen.
Das Buch dokumentiert 20 Lebensgeschichten von Schweizerinnen und Schweizern im Ausland.
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