Die Renaissance der Industriebrachen
In der Schweiz liegen viele ehemalige Industrieflächen brach. Die Gesamtfläche von 17 Mio. Quadratmeter Land entspricht der Grösse der Stadt Genf.
Die Umnutzung dieser Areale in Lebens- und Arbeitsraum könnte viele Grünzonen vor einer Verbauung schützen.
In der Schweiz liegen viele ehemalige Industrieflächen brach. Die Gesamtfläche von 17 Mio. Quadratmeter Land entspricht der Grösse der Stadt Genf mit Umgebung.
Umstrukturierungen, Krisen, Auslagerungen, Globalisierung: In den vergangenen Jahrzehnten mussten etliche Schweizer Industriebetriebe ihre Tore schliessen.
Zwischen 1991 und 2001 gingen mehr als 250’000 Stellen im Sekundär-Sektor verloren. Dies entspricht 20% aller in der Industrie tätigen Arbeitskräfte.
Die Arbeitsplätze sind weg, doch die Industrieareale sind geblieben. Häufig gänzlich verwaist, liegen sie über das Land verstreut, aber vor allem im Mittelland.
Sie sind Zeugen einer vergangenen Zeit. Etwa das Fabrikareal von Brown-Boweri in Baden, das Gelände von Oerlikon-Bührle in Zürich, von Sulzer in Winterthur. Oder die Textilfabriken in St.Gallen, die ehemalige Stahlfabrik Monteforno in Bodio.
Altes nutzen statt Grünfläche zu opfern
Eine diese Woche vorgestellte Studie des Bundes kommt zum Schluss, dass in den brach liegenden Industriearealen 17 Mio. Quadtratmeter Land ungenutzt bleibt. Die Areale könnten 1,5 Mrd. Franken jährlich einbringen.
Anstoss zur Studie gab 2002 ein politischer Vorstoss: Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer ersuchte in einem Postulat den Bundesrat in einem Postulat, das Ausmass der nicht benutzten Industrieareale zu erfassen.
«Jedes Jahr werden Tausende von Hektaren an Grünfläche geopfert, um neue Wohnhäuser, Geschäftszentren oder Industriekomplexe zu bauen. Das ist eine unverantwortliche Verschwendung, denn man könnte gut brachliegende Industriefläche nutzen», sagt Leutenegger Oberholzer.
Boden wird immer knapper
Das Mittelland, wo 70% der Bevölkerung lebt, verwandelt sich zusehends in eine einzige riesige Agglomeration. Jede Sekunde wird in der Schweiz ein Quadratmeter an Grünfläche vernichtet.
«Diese Entwicklung ist das Resultat kurzfristigen Denkens: Denn der Boden ist keine erneuerbare Ressource. Man muss deshalb sehr behutsam vorgehen, nicht nur um die Natur zu schützen, sondern auch, um die Lebensqualität zu erhalten», sagt Philippe Roch, Direktor des Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal).
Ungenutzte Landreserven
Die Fläche der Industriebrachen würde ausreichen, um Unternehmungen mit 140’000 Angestellten anzusieden. Oder um Wohnungen für 190’000 Personen zu bauen. Die Fläche entspricht von der Grössenordnung her der Stadt Genf mitsamt Umgebung.
Gemäss der Studie, die diese Woche in Zürich der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, gibt es in der Schweiz mindestens 380 industrielle Brachflächen von mehr als einem Hektar Grösse.
«Es handelt sich nicht nur um Areale der Privatindustrie, sondern auch um alte Hallen der öffentlichen Hand, der Post, des Militärs oder den SBB», präzisiert Pierre-Alain Rumley, Direktor des Bundesamtes für Raumentwicklung.
Brachliegendes Vermögen
«Auf Grund unserer Schätzungen könnten die ungenutzten Industrieareale bis zu 1,5 Mia. Franken pro Jahr einbringen, dazu Steuereinnahmen von 150 bis 250 Mio.», unterstreicht Philippe Roch.
Unter diesen Voraussetzungen leuchtet es ein, dass Politiker und Ökonomen Interesse zeigen, um die Rahmenbedingungen für die Wiederverwendung dieser Flächen zu definieren.
Einige erste Projekte haben es in den vergangenen Jahren bereits erlaubt, ganze stillgelegte Industriequartiere umzuwandeln und neu zu aktivieren. In Lausanne ist beispielsweise das Quartier Flon zu neuem Leben erwacht. In Zürich-West wurde das Areal Escher-Wyss in ein Wohn- und Ausgehquartier mitsamt Theater und Kino umgewandelt.
Umwelt muss saniert werden
Eines der grössten Hindernisse beim «Brachflächen Recycling» stellen Umweltprobleme dar. Oft müssen Altlasten der industriellen Nutzung aufwändig saniert werden. 100 Franken pro Quadratmeter muss für die Instandsetzung eines verseuchten Geländes kalkuliert werden.
Das ist zwar viel Geld, doch könnte sich die Investition auf Grund der privilegierten Lage vieler Industrieareale lohnen. Einst wurden diese nämlich am Rande der Wohnsiedlungen gebaut. Doch durch die Ausweitung der Siedlungen sind die Industrieanlagen zusehends ins Zentrum vieler Agglomerationen gerückt.
Die Fabriken haben ihren Wert verloren. Aber das Land hat an Wert gewonnen. In Zürich kostet ein Quadratmeter in alten Industrieflächen heute leicht 2000 oder 3000 Franken.
swissinfo, Armando Mombelli
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Rund 80 Prozent der Brachflächen befinden sich in den urbanen Gebieten des Mittellandes.
Bei mehr als der Hälfte der Areale wohnt je über eine halbe Million Einwohner im Umkreis von 30 Auto-Minuten.
Laut Hochrechnungen haben die brachliegenden Flächen konservativ gerechnet ein Wert-Potenzial von bis zu 10 Mia. Franken.
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