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Die Schweiz der Städte, eine verkannte Mehrheit

Die einst ländlich geprägte Schweiz ist heute ein urbanes Land. Keystone

Finanzen, Sozialwesen, Sicherheit, Städtebau, Energie: Die Städte sind zentrale Akteure in einem Land, in dem sieben von zehn Personen in einer Stadt wohnen.

Doch ihre Sorgen werden oft verkannt. swissinfo hat mit einigen Stadtpräsidenten gesprochen. Den Auftakt macht Ernst Wohlwend aus Winterthur.

Jean-Jacques Rousseau verglich die Schweiz mit einer grossen Stadt mit «mehr oder weniger dicht bewohnten Quartieren, alle immerhin so dicht bevölkert, dass man merkt, dass man immer noch in der Stadt ist».

Das ist lange vorbei. Wissenschaftler wie Martin Schuler, der den Atlas des räumlichen Wandels der Schweiz erstellt hat, widerlegen heute die Idee eines Stadt-Landes. Dazu ist die Schweiz zu verschiedenartig und zu zerstückelt.

Sie ist vielmehr ein Land der Städte. 2004 wohnten in 133 Gemeinden mehr als 10’000 Personen, womit sie als Städte gelten. Mehr noch: Es ist ein Land von Stadtmenschen. Sieben von zehn Personen leben nicht mehr auf dem Land.

Leben in der Agglomeration

Die Schweiz ist also im wesentlichen städtisch geprägt. Denn Werte, Lebensweise und Aktivitäten haben oft nicht mehr viel mit dem Leben auf dem Land zu tun.

Grossstädtisch ist die Schweiz auch aufgrund ihrer internationalen Dimension, der starken wirtschaftlichen Spezialisierung ihrer Arbeitskräfte und ihrer oft in den Städten konzentrierten Unternehmen.

Es gibt gar fünf grosse eigentliche Wirtschaftsmetropolen: Die Regionen Zürich, Basel und Bern sowie der Genferseebogen und das Tessin (das wirtschaftlich zur Region Mailand gehört).

Eine weitere Eigenschaft besteht darin, dass die Stadt weniger eine administrative und territoriale Zone als eine Agglomeration mit den benachbarten Gemeinden ist.

Hier lebt und arbeitet man, doch man stimmt nicht hier ab und man bezahlt die Steuern nicht hier. Das gibt Probleme bei den Kompetenzen und der Effizienz sowie bei der Finanzierung von Infrastrukturen für Sport, Kultur und Umwelt.

Institutionelle Veränderungen

Deshalb beschliessen einige Gemeinden zu fusionieren (Bulle) oder sie weiten den institutionellen Rahmen aus (Lausanne). Für andere, wie die Region Basel, ist die Koordination im Alltag eine Notwendigkeit.

«Gewisse institutionelle Veränderungen sind nötig», so Schulers Analyse. «Man kann die Grenzen verändern. Aber eine Fusion ist nicht die einzige Möglichkeit.»

In dieser zusammengewürfelten Schweiz sind einige Orte finanzstark, während andere Zentrumsstädte von den Kosten der regionalen Infrastrukturen fast erdrückt werden. Hinzu kommt das Problem mit den Steuern.

Im Schweizer Steuersystem sind äusserst unterschiedliche Einkommens-Steuersätze möglich, so dass reiche Gemeinden andere unterbieten können.

«Steuerwettbewerb kann schon nützlich sein. Aber das gegenwärtige System ist ungerecht. In Frankreich oder Deutschland versteht niemand, dass man einen Drittel weniger Steuern zahlen muss, nur weil man 200 m weiter in eine andere Gemeinde zieht», findet Schuler.

Das Gewicht der ländlichen Kantone

Der politische Einfluss der Urbanität ist nicht so gross wie der wirtschaftliche und demografische. Der Grund liegt in der Unterteilung in Kantone und in der Regelung für die Parlaments-Abgeordneten. Vor allem liegt er darin, dass bei Verfassungsabstimmungen das Volks- und das Ständemehr nötig ist.

«Die kleinen Landkantone haben bei diesen Abstimmungen grosses Gewicht», bemerkt Schuler. «Sie können eine Entscheidung blockieren, die von der Mehrheit der Bevölkerung gewünscht wird. Das ist ein Schlüsselelement, von dem die Landregionen, und längerfristig die Deutschschweiz profitieren.»

Zwei Beispiele von Abstimmungen, in denen die kleinen Landkantone die anderen überstimmten: Die Ablehnung der erleichterten Einbürgerung ausländischer Jugendlicher (1993) und des Kulturförderungsartikels (1994).

Trotzdem sieht es für die Stadtregionen nicht schlecht aus. Auf nationaler Ebene nimmt der Bund nun mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse der Städte.

Und seit gut zehn Jahren verfolgt er eine Agglomerationspolitik, die weitgehend auf positives Echo stösst (Hilfe bei Investitionen in den öffentlichen Verkehr usw.).

Zentrumslasten

Laut dem Vizepräsidenten des Schweizerischen Städteverbands (SSV), Daniel Brélaz, gibt es eine ganze Reihe von Problemen, mit denen sich die Behörden der Schweizer Städte herumschlagen.

Dazu gehören die Lastenverschiebung und die Einkommensrückgänge im Zusammenhang mit Beschlüssen des Bundes oder der Kantone, die Probleme mit der Integration der ausländischen Bevölkerung oder das wachsende Gefühl der Unsicherheit in den Städten.

Der Gemeindepräsident von Lausanne nennt ausserdem eine vermehrte Rückkehr in die Stadt (Raumplanungspolitik, Stadtplanung), soziale Probleme, Infrastruktur und Energie…

Dazu kommen Herausforderungen und Probleme, welche typisch sind für jede Stadt: Ein ganzer Katalog und damit viele Themen, die vor den Parlamentswahlen von 2007 gerne aufgegriffen werden.

swissinfo, Pierre-François Besson

Die Schweizer Städte mit der grössten Einwohnerzahl (2003):
Zürich – 361’804
Genf – 182’660
Basel – 168’960
Bern – 127’513
Lausanne – 123’314
Winterthur – 91’771
St. Gallen – 73’737
Luzern – 58’631

Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung lebt in den fünf ersten Städten und ihren Vororten.

Die Schweiz hat 133 Städte (Orte mit mehr als 10’000 Einwohnern) und 50 Agglomerationen (mit über 20’000 Einwohnern). Davon ist Zürich mit einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern die grösste.

Anfangs der 1990er-Jahre nahm die Bevölkerungszahl in den Landgebieten stärker zu als in den Städten. 1998 kehrte sich die Situation. Doch seit 2000 steigen die Bevölkerungszahlen in beiden Zonen gleichmässig.

Einige Kantone wie Basel Stadt sind reine Stadtkantone. Auch Genf (99%), Zürich (95%), Tessin (86%), Waadt (75%) und Neuenburg (75%) sind stark verstädtert, währen die Kantone Uri, Obwalden und Glarus reine Landkantone sind.

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