Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Die Verlärmung der Schweiz

Die Auswirkungen des Lärms auf die Gesundheit werden unterschätzt. Keystone

Die zunehmende Verlärmung des Alltags macht vielen Menschen das Leben zur Qual. Auto-, Schienen- und Flugverkehr werden immer dichter.

Lärm wird völlig unterschätzt, sagen Fachleute. Denn er nagt an unserer Gesundheit.

Zwei von drei Schweizern fühlen sich zusehends durch den allgegenwärtigen Lärm in der Lebensqualität beeinträchtigt. Hauptverursacher sind Autos, Eisenbahnen und Flugzeuge.

Der Strassenverkehr verursacht am meisten Lärm. Rund eine Million Schweizer wohnte Anfang der 1990er Jahre entlang Verkehrsachsen, deren Lärmwerte schon damals über dem gesetzlich Erlaubten lagen.

Fluglärm bewegt die Nation



Immer mehr Menschen sind zudem vom Fluglärm betroffen. Diesem kann man kaum entrinnen, denn er beschallt grossflächig. Das müssen seit kurzem über 200’000 Bewohner vom oberen Zürichsee bis ins Stadtzürcher Quartier Schwamendingen erfahren.

Seit dem 30. Oktober werden sie ab 6 Uhr in der Frühe von den dröhnenden Triebwerken der anfliegen Flugzeuge auf den Flughafen Kloten aus dem Schlaf gerissen. Und seit bald zwei Jahren werden rund 100’000 Menschen im Raum Winterthur/Tösstal bis nach Mitternacht um ihren Schlaf gebracht.

Selten zuvor sind in der Schweiz auf einen Schlag so viele Leute derart massiv beschallt worden. Der Fluglärm ist zu einem emotionalen Thema erster Güte geworden und beherrscht die Medien. Er radikalisiert die Betroffenen; Hitzköpfe drohen gar mit Gewalt.

Lärmfrei leben, ein Menschenrecht?

«Es ist die Summe der vielen Lärmereignisse, die das Fass zum Überlaufen bringt», stellt Bernhard Aufdereggen von «Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz» fest.

Die Fluglärmgegner sprechen von Menschenwürde und meinen das Recht auf Ruhe. Lärm wird als unerträgliche Beeinträchtigung der Lebensqualität empfunden.

«Viele Leute kommen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Permanenter Stress durch Lärm führt zu dauerhafter Blutdruckerhöhung und zur Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie dem Herzinfarkt», erklärt Aufdereggen.

Bei Leuten, die einem Schallpegel von 65 dB am Tag und 55 dB in der Nacht ausgesetzt sind, nimmt die Gefahr eines Herzkollapses um 20 Prozent zu. Rein statistisch gesehen, sterben daher in der Schweiz jährlich mindestens 79 Menschen an Herzinfarkten durch Lärm.

Gefahr im Schlaf



Lärm macht schleichend krank und ist vor allem nachts schädlich. Dann also, wenn sich der Organismus im Tief- und Traumschlaf erholt. In der Schweiz wohnen über drei Millionen Menschen an Orten mit einem nächtlichen Lärm von 46 Dezibel draussen vor dem Schlafzimmerfenster; sogenannte Aufwachreaktionen treten bereits bei 30 Dezibel ein.

Auch wenn Schlafende vom Lärm vor dem Fenster nicht wirklich aufwachen – ihr Körper schüttet trotzdem permanent Stresshormone aus. Schlechter Schlaf äussert sich in depressiver Stimmung oder Kopfweh und beeinträchtigt die Arbeitsleistungen.

«Viele Leute schlafen schlecht und betrachten dies als Normalzustand», beobachtet SUVA-Arzt Laszlo Matefi. «Viele zivilisatorische Krankheiten wären weniger ausgeprägt, wenn der allgemeine Gesundheitszustand dank ungestörterem Schlaf besser wäre.»

Gestörte Kommunikation



Der wachsende Lärm zeigt seine negativen Auswirkungen immer mehr auch im psycho-sozialen Bereich. Eine gestörte Unterhaltung zwingt zu lauterem Sprechen und angestrengterem Zuhören. Lärm unterbricht zudem die Kommunikation: «Ein Gespräch wird nie mehr dort aufgenommen, wo es unterbrochen wurde», stellt Matefi fest.

Schulhäuser, die grossem Lärm ausgesetzt sind, beeinträchtigen Lernverhalten und Konzentrationsvermögen der Schüler. In vielen Schulhäusern können sich die Schüler nur dank teuren Schallschutzfenstern auf den Unterricht konzentrieren.

Rückzug in die Innenräume



Damit sind auch die finanziellen Kosten des Lärms angesprochen. Dem Lärm versucht die öffentliche Hand verzweifelt mit technischen Massnahmen, sprich Lärmschutzwände oder Flüsterbeläge, beizukommen. Doch die vom Bund gesteckten Ziele der Lärmbekämpfung können von Gemeinden und Kantonen nicht eingehalten werden.

Im laufenden Entlastungspaket will der Bundesrat die Lärmschutzbeiträge an Kantone und Gemeinden von heute 40 bis 70 Prozent der Baukosten auf 20 bis 35 Prozent herunterfahren.

Wer es sich leisten kann, flieht vor dem Lärm. Zum Exodus ins ruhigere Grüne gehören jedoch in der Regel auch die – wiederum lärmverursachenden – Autos.

Verursacher sollen zahlen



Lärm hat einen hohen Preis. Die Zeche – die externen Kosten in Form von Gesundheits- und Sozialschäden – müssten jene zahlen, die ihn verursachen, verlangt zum Beispiel die Weltgesundheits-Organisation WHO.

Diese Meinung wird auch vom Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) geteilt. «Das Verursacherprinzip muss im Umweltschutzgesetz so erweitert werden, dass sämtliche Lärmkosten dem Verursacher übertragen werden», sagt Urs Jörg.

Faktoren wie die Grösse des Hubraums, laute Motorräder oder breite Autoreifen könnten bei einer Kostenüberwälzung eine Rolle spielen. Modelle wie das Londoner «Road Pricing» werden seit längerem auch in der Schweiz diskutiert.

Beim Flugverkehr gäbe es die Möglichkeit, Flugtreibstoff zu besteuern. Der Bundesrat gibt jedoch andere Signale: Im Juni erst hat er Swiss auf Inlandflügen von der Mineralölsteuer befreit.

swissinfo, Stefan Hartmann

Der Strassenverkehr verursacht am meisten Lärm.

Rund 1 Mio. Schweizer wohnte Anfang der 1990er Jahre entlang Verkehrsachsen, deren Lärmwerte schon damals über dem gesetzlich Erlaubten lagen.

Bei Leuten, die einem Schallpegel von 65 dB am Tag und 55 dB in der Nacht ausgesetzt sind, nimmt die Gefahr eines Herzkollapses um 20% zu.

Rein statistisch gesehen, sterben daher in der Schweiz jährlich mindestens 79 Menschen an Herzinfarkten durch Lärm.

In der Schweiz wohnen über 3 Mio. Menschen an Orten mit einem nächtlichen Lärm von 46 dB draussen vor dem Schlafzimmerfenster.

Aufwachreaktionen treten bereits bei 30 dB ein.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft