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Ehemaliger «Schurkenstaat» gibt sich handzahm

Libyen hat eine bewegte Geschichte. Unter Revolutionsführer Muammar el Gaddafi galt das nordafrikanische Land lange Zeit als "Schurkenstaat".

Dieses Image will Gaddafi nun endgültig loswerden – aber zu seinen Bedingungen.

36 Jahre ist es jetzt her, dass Muammar el Gaddafi im Alter von 27 Jahren den libyschen König Idriss aus dem Amt gejagt und sich an die Macht geputscht hatte. Er errichtete eine Diktatur und fuhr einen strengen antiwestlichen Kurs.

Doch das soll der Vergangenheit angehören. Der Revolutionär Gaddafi, der jahrzehntelang den arabischen Terror gegen den Westen und Israel unterstützt hatte, sucht nun den Schulterschluss mit den ehemaligen Feinden.

Die Aufhebung der UNO-Sanktionen nach der Lockerbie-Affäre, angebliche Lösegeldzahlungen bei Geiseldramen, der Verzicht auf Massenvernichtungs-Waffen und die eingeleiteten Staatsreformen zeigen eine deutliche Öffnung Libyens gegenüber der westlichen Welt. Das internationale Ansehen verbesserte sich merklich.

Experten zweifeln

Doch so richtig kommt Libyen nicht vom Fleck. Experten zweifeln, dass es Gaddafi, der kein offizielles Amt mehr bekleidet, wirklich Ernst ist mit den Staatsreformen. Für grosse Veränderungen ist das Politsystem in Libyen zu kompliziert.

«Ich bin pessimistisch», sagt Nordafrika-Expertin Isabelle Werenfels in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur sda. Die Schweizerin, die bei der «Stiftung für Wissenschaft und Politik» in Berlin forscht, sieht bei Gaddafi kein wirkliches Interesse an einer politischen Öffnung.

Vor allem bei Themen wie Demokratisierung und Menschenrechte dürfte sich in Libyen so schnell nichts ändern. Erst kürzlich war einer der wenigen kritischen Journalisten in Libyen tot aufgefunden worden – offensichtlich war er gefoltert worden. «Das ist symptomatisch für dieses Land», sagt Werenfels.

Kompliziertes System

Ähnlich sehen es die Experten, die jährlich zu Libyen den Bertelsmann Transformations-Index veröffentlichen: «In Libyen sind die Chancen für Reformen von innen heraus gegenwärtig gering», heisst es in dem Bericht.

Das Problem ist die duale Struktur: Offiziell regiert das Volk. Dabei ist die ganze Nation in Volkskomitees organisiert, die sich mehrmals pro Jahr zu Basiskonferenzen treffen. Diese wählen die Leitungen von Betrieben und Behörden und entsenden Delegierte in den Allgemeinen Volkskongress – das oberste Staatsorgan mit 2700 Mitgliedern.

Daneben gibt es noch die 1969 gegründeten Revolutionskomitees. Deren Aufgaben und Kompetenzen sind unklar, der Einfluss nach wie vor sehr gross. Sie unterstehen keiner staatlichen Kontrolle. Die Verfolgung und Verhaftung politischer Gegner geht hauptsächlich auf sie zurück.

Dass politischer Handlungsbedarf besteht, ist unbestritten. Doch Gaddafi lässt sich nicht in innenpolitische Angelegenheiten reinreden. Und der Leader kann es sich leisten.

Augen zu

Libyen gilt als Mitglied der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) als Gebiet mit den weltweit grössten unerschlossenen Ölreserven. Damit hat das Land international einen Trumpf in der Hand.

Die jährlichen Einnahmen aus Ölexporten belaufen sich auf 17 Mrd. Dollar. «Bei Gaddafi drückt man Augen zu, wo man es sonst nicht macht», bedauert Werenfels.

Konkret: Noch steht Libyen auf der Terrorliste der Amerikaner. Aber hier wird gemunkelt, dass die USA bei künftigen Öl-Lizenzvergaben deutlich bevorzugt werden und Libyen im Gegenzug von der Liste gestrichen wird.

Insgesamt bleibt die Lage bedenklich. Nach Einschätzung der Experten ist Libyen nach wie vor einer der geschlossensten arabischen Staaten. Das dürfte sich so rasch nicht ändern.

Klare Perspektiven fehlen

Wirtschaftlich gilt Libyen als Land mit einem gewaltigen Entwicklungspotenzial. Die Liberalisierung stellt ein fester Bestandteil der Wirtschaftsagenda dar; die eingeleiteten Staatsreformen und die Privatisierung inspirieren den Markt.

Doch noch steht das nordafrikanische Land am Anfang seines Transformationsprozesses. Trotz einer Reihe von Gesetzesänderungen (Senkung der Einkommenssteuer, vereinfachte Registrierung für Firmen, Anerkennung des Privatsektors) fehlen noch weitgehend klare Perspektiven.

Den Grund sehen die Experten in der Tatsache, dass mit der wirtschaftlichen Liberalisierung keine politische Öffnung einhergeht, sämtliche Reformen dienen auch weiterhin dem Machterhalt Gaddafis.

Erste Schritte

Doch alles Grosse beginnt im Kleinen. «Erste Schritte im Privatisierungsprozess sind gemacht», beobachtet der Schweizer Botschafter in Libyen, Markus Peter, in Tripolis. Bereits gibt es viele private Gewerbebetriebe wie Läden, Restaurants, Kleinkliniken, Tourismusagenturen oder Transportunternehmen. Bis 2008 sollen 360 Staatsunternehmen privatisiert werden.

Auch die Schweizer Wirtschaft hofft, sich in den kommenden Jahren einen Teil des Kuchens ergattern zu können. «Die Schweiz hat in allen Sektoren, in denen sie stark ist, Beteiligungschancen», ist Botschafter Peter überzeugt.

Dazu gehören vor allem der Gesundheitssektor, die Elektrizitätswirtschaft oder das Bankenwesen sowie Infrastruktur für Wasser, Transport und Kommunikation.

Bisher sind nach Angaben der Schweizer Exportförderorganisation osec nur wenige Firmen in Libyen vertreten, da die Akquisition von Aufträgen sehr aufwändig sei. «Die stärkste Motivation für Geschäftsbeziehungen mit Libyen dürfte die Aussicht auf bessere Zeiten sein», heisst es bei der osec.

Tourismus als Chance

Viel Potenzial sehen Experten im Tourismus. Libyen besitzt 2000 Kilometer unberührte Strände, zahlreiche antike Stätten, prähistorische Kunstwerke und spektakuläre Naturschönheiten in der Wüste.

«Dem Fremden wird nach islamischer Tradition freundlich begegnet», weiss Peter. Aggressives Verhalten gegenüber Touristinnen und Touristen sei weitgehend unbekannt. Ein solches Land, zwei bis drei Flugstunden von Mitteleuropa entfernt, habe echte Tourismuschancen.

Eine Infrastruktur, wie sie der Durchschnittstourist braucht, fehlt jedoch noch weitgehend. Das soll sich ändern. Ein Teil der Milliardeneinnahmen aus dem libyschen Erdöl soll in den Aufbau touristischer Strukturen investiert werden.

Bis 2008 sollen schon eine Million Gäste ins Land kommen. Im Jahr 2004 waren es gemäss Schätzungen rund 300’000. Noch ist aber offen, ob sich das Land eher dem sanften oder dem Massentourismus zuwenden wird.

Langer Weg

Der Weg für Libyen von einer staatlich gelenkten, ausschliesslich von der Erdölproduktion abhängigen Wirtschaft zu einem privatwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystem ist lang und steinig. Es braucht Investitionen und Know-how aus dem Ausland.

Ein Spaziergang wird das nicht. «Libyen ist reich, aber kein einfacher Markt. Gefragt sind Freude am Risiko, Geduld und Bereitschaft, sich selbst vor Ort zu engagieren», rät der Botschafter den Interessierten.

swissinfo und Dagmar Zumstein, sda

Joseph Deiss ist am 19. August als erster Schweizer Bundesrat zu einem offiziellen dreitätigen Besuch nach Libyen gereist.

Der Wirtschaftminister will die Handelsbeziehungen und Geschäftskontakte der beiden Länder ausbauen.

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