Eine gelungene Wende in der Drogenpolitik
Im Januar 1994 starteten in Zürich die ersten Programme zur kontrollierten Heroinabgabe. Die Weltpremiere wurde aufmerksam beobachtet und heftig kritisiert.
Zehn Jahre später ziehen die Beteiligten eine positive Bilanz: Die Behandlung und Überlebenshilfe hat sich bewährt.
1991 erreichte das Drogenproblem in der Schweiz seinen Höhepunkt: Mehr als 400 Menschen, unter ihnen Dutzende Minderjährige, starben an den Folgen des Drogenkonsums. Zudem breiteten sich Aids und Hepatitis unter den Drogenkonsumenten immer mehr aus und forderten zusätzlich rund hundert Todesopfer.
Zürich war zum europäischen Drogen-Supermarkt geworden. Nur wenige Schritte von den luxuriösen Geschäften der Bahnhofstrasse entfernt versammelten sich täglich bis zu 3000 Drogenabhängige auf dem Platzspitz.
Die Behörden reagierten hilflos und leisteten vor allem medizinische Nothilfe. Jeden Tag musste rund ein Dutzend Drogenabhängige reanimiert werden.
Die Bilder vom Platzspitz sorgten weltweit für Schlagzeilen. Zürich wurde eine Zeit lang nicht mehr primär als Finanzplatz sondern als der Ort mit der offenen Drogenszene wahrgenommen.
Neue Strategie
Die illegalen Drogen tauchten in der Schweiz in den 60er Jahren auf. Sie breiteten sich in den folgenden Jahrzehnten massiv aus, unabhängig von den verschiedenen politischen Massnahmen wie Repression oder Duldung.
1991 lancierte der Bund eine neue Strategie, die auf Prävention, Therapie und Repression setzte. Als neuer Eckpfeiler wurde auch die Risikoreduzierung eingeführt.
Es ging um konkrete Überlebenshilfen. Denn auch wenn sich das Drogenproblem nicht eliminieren liess, wollte man wenigstens seinen Verbündeten zu Leibe rücken: Kriminalität, Prostitution, soziale Verwahrlosung, Krankheiten.
In der Schweiz wurden Integrationsprogramme gestartet, Fixerstuben zum Konsum der Drogen geöffnet sowie die Abgabe von sterilen Spritzen organisiert – 3,5 Mio. Spritzen wurden jedes Jahr abgegeben.
Das innovativste Produkt aber, das auch im Ausland grosse Beachtung fand, war die medizinisch kontrollierte Heroinabgabe für Schwerstsüchtige. Es wurde im Januar 1994 in Zürich gestartet und bisher von 2500 Drogenabhängigen in 12 Kantonen genutzt.
Positive Bilanz
«Statt ‹Abgabe von Heroin› benutzen wir heute lieber den Begriff ‹Behandlung mit Heroin› » erklärt Martin Hosek, Mitarbeiter beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Gespräch mit swissinfo.
Zum Programm gehören nicht nur das Heroin sondern auch medizinische Behandlung und psychosoziale Begleitung. Und diesem Gesamtpaket, attestieren die Experten für die letzten zehn Jahre einen Erfolg.
«Wir haben eine klare Verminderung der Kriminalitätsrate und der Prostitution bei denjenigen Personen festgestellt, die bei der Heroin-Behandlung mitmachten. Bei der Kriminalität haben wir eine Reduktion von 60 auf 20 Prozent der Fälle», unterstreicht Hosek.
Verschiedene Studien des BAG zeigten eine klare Verbesserung des Gesundheitszustandes von Drogenabhängigen, zudem auch einen geringeren Konsum von Alkohol und anderen Drogen sowie eine bessere soziale Integration.
Die schwierigen Fälle
Auf die etwa 30’000 Konsumentinnen und Konsumenten von harten Drogen in der Schweiz nehmen heute etwas mehr als 1200 an einem Heroin-Programm teil.
Die Droge auf Rezept ist an präzis formulierte Bedingungen geknüpft: Nur wer mindestens zwei Jahre heroinabhängig ist und bereits andere Therapieversuche unternommen hat, wird aufgenommen.
«Normalerweise nehmen an diesem Programm Drogenabhängige teil, die auf andere Therapien nicht positiv reagiert haben, also zum Beispiel eine Entwöhnung mit Methadon abgebrochen haben», erklärt der Arzt Andreas Moldovanyi, der seit 1994 über 400 Drogenabhängige in den Kliniken Lifeline und Crossline in Zürich behandelt hat.
Da man sich den schwersten Fällen widmet, ist der Prozentsatz der Personen, die den Weg aus dem Drogentunnel finden, nicht grösser als bei anderen Therapien. Dies spricht jedoch nicht gegen diesen medizinischen Ansatz.
«Der Vorteil dieses Programms ist vor allem, dass man die Gesundheit des Patienten stabilisieren kann, damit er später eine Methadon-Kur oder eine Therapie für totale Abstinenz durchführen kann», unterstreicht Doktor Moldovanyi.
In der Schweiz gewinnen Abhängige den Kampf gegen die Drogen durchschnittlich erst nach mehr als zehn Jahren. Aber wenn sie an diesem Ziel anlangen, ist es besser, wenn sie sich in einem möglichst guten Gesundheitszustand befinden.
Das Schweizer Modell
Die zehn Jahre des Bestehens der Programme zur Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige haben geholfen, das Drogenproblem im Sinn der neuen Strategie der Behörden anzugehen.
Auch wenn sich der Konsum von harten Drogen bloss stabilisiert hat, ist die offene Drogenszene weitgehend verschwunden und die Todesfälle haben deutlich abgenommen (111 Todesopfer im Jahr 2002). Zudem ist die Infizierung mit Aids und Hepatitis zurückgegangen.
Trotz anfänglichen Schwierigkeiten und Widerstand hat sich die Abgabe von Heroin an Schwerstdrogenabhängige bei der Mehrheit der Politiker und den Spezialisten des Gesundheitssektors durchgesetzt. Auch die Bevölkerung ist damit einverstanden, wie Abstimmungsergebnisse von eidgenössischen und kantonalen Abstimmungen zeigen.
Auch die internationale Kritik, unter anderen von der Gesundheitsbehörde der UNO, ist weitgehend verstummt: Die Schweizer Programme der Heroinabgabe machen in immer mehr Ländern Schule.
«Auf internationaler Ebene hat in den letzten Jahren ein Umdenken stattgefunden», stellt Martin Hosek fest. «In Holland besteht seit drei Jahren ein zur Schweiz analoges Programm, in Spanien und Deutschland sind erste Versuche lanciert worden und im März wird auch Kanada dem Beispiel der Schweiz folgen.»
Und hierzulande denkt man bereits darüber nach, auch andere Drogen wie Kokain oder Ecstasy unter ärztlicher Kontrolle abzugeben. Dieses Projekt hat zwar bislang wenig Unterstützung erfahren. Vielleicht aber wirkt es sich auf den Kurs einer künftigen Drogenpolitik aus.
swissinfo, Armando Mombelli
(Übertragung aus dem Italienischen: Eva Herrmann)
In der Schweiz gibt es ca. 30’000 Personen, die harte Drogen konsumieren.
2500 Schwerstabhängige (ein Viertel davon Frauen) haben in den letzten 10 Jahren ein Heroin-Programm genutzt.
Aktuell sind es 1200 in über 20 Abgabestellen (darunter zwei Gefängnissen) in 12 Kantonen.
In der Romandie macht bloss Genf mit.
Zum Vergleich: 18’000 Drogenkranke machen eine Therapie mit Methadon.
Zum 10-jährigen Jubiläum organisierten das Sozialdepartement der Stadt Zürich und die Arbeitsgemeinschaft für einen risikoarmen Umgang mit Drogen (ARUD) eine Tagung zur Heroinabgabe.
Gemäss den Resultaten der Begleitforschung verbessert die Therapie den Gesundheitszustand der Abhängigen, reduziert ihren Suchtmittelkonsum und verbessert ihr Sozialverhalten.
Weiter rechnet sich die Therapie auch, weil die Delinquenz abnimmt und Justiz und Polizei entlastet werden.
Die in den Niederlanden, Grossbritannien, Deutschland und Spanien durchgeführten Studien bestätigen die Schweizer Erkenntnisse.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch