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Experten warnen vor dem Zerfall des Sozialstaats

Die EU-Fahne im polnischen Sublice, einer Stadt in der Nähe der Grenze zu Deutschland. Keystone

Droht die Personen-Freizügigkeit innerhalb der erweiterten EU die Sozialsysteme auszuhöhlen? Fachleute befürchten Sozialhilfe-Tourismus aus osteuropäischen EU-Staaten.

Die Schweiz hat sich mit restriktiven Regelungen bereits abgesichert.

Was als konsequenter Schritt zu einem grenzenlosen Europa gedacht war, droht nun zur Belastungsprobe zu werden. Dies zumindest glaubt das renommierte ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München, dass mit seinen Prognosen in Deutschlands Zeitungen für Diskussionsstoff sorgt.

Wenn in der EU nach 2010 die volle Freizügigkeit gelte, würden gegen 2,5 Millionen Menschen allein nach Deutschland einwandern, sagt der Chef des ifo-Instituts, Hans Werner Sinn. Die Folge werde langfristig eine Erosion des Sozialsystems in den westlichen Wohlfahrtsstaaten sein.

«Ein Land nach dem anderen wird Sozialabbau betreiben», sagt der Wirtschaftsexperte. Denn kein Land wolle das Ziel einer Wanderungswelle von «Wohlfahrtsempfängern» werden.

Die Schweiz hat vorgesorgt

Sinn stützt sich bei seinen Einschätzungen auf die EU-Freizügigkeits-Richtlinie, die jedem EU-Bürger – auch Nichterwerbstätigen – das Recht zuspricht, in einem EU-Staat eine bis zu fünfjährige Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Anschliessend wird ihm das Daueraufenthaltsrecht gewährt.

Die Frage stellt sich nun, ob die Schweiz von einem solchen «Sozialhilfe-Tourismus» ebenfalls betroffen wäre, denn sie hat in ihrem Freizügigkeits-Abkommen mit der EU dieselben Regeln übernommen:

Die Gefahr bestehe nicht, heisst es beim Integrationsbüro des Bundes. Die Bedingungen für eine Aufenthaltsbewilligung seien klar geregelt: Nichterwerbstätige müssen nachweisen, dass sie über genügend finanzielle Mittel verfügen und umfassend gegen Krankheit und Unfall versichert sind.

Ohne Arbeit kein Recht auf Sozialhilfe



Schummeleien mit falschen Bankkonten und geliehenem Vermögen, wie sie Professor Sinn voraussieht, seien in der Schweiz nicht möglich.

Wer nämlich «als nichterwerbstätiger EU-Angehöriger in die Schweiz einwandert, hat kein Anrecht auf Sozialfürsorge», sagt Mario Tuor, Informationsbeauftragter des Bundesamtes für Zuwanderung, Integration und Auswanderung (Imes) gegenüber swissinfo.

Damit entfällt der Anreiz, aus ärmeren Regionen Europas in den Sozialstaat Schweiz zu wandern.

Deutschland hinkt hinterher



In den «Weisungen über die schrittweise Einführung des freien Personenverkehrs» von 1999 sind auch Folgefälle klar geregelt: «Stellen die Behörden fest, dass keine genügenden finanziellen Mittel oder keine ausreichende Krankenversicherung mehr vorhanden ist, kann die Bewilligung widerrufen oder eine Verlängerung abgelehnt werden.»

Mit diesen Regelungen, ist man in der Schweiz überzeugt, ist man gegen unbotmässige Sozialhilfe-Ansprüche gewappnet.

In Deutschland dagegen wird unter Fachleuten noch heftig diskutiert. Zwar halten viele die Prognosen des Münchner Wirtschaftsprofessors für übertrieben. Im Grundsätzlichen aber herrscht Einigkeit: Die Osterweiterung wird den Druck auf die bestehenden Sozialstandards erhöhen.

Verantwortung für die Heimatländer



Um diesen Druck abzufedern, haben EU-Staaten wie Grossbritannien und Irland die Zugangsrechte in die Sozialsysteme – ähnlich wie die Schweiz – verschärft: So soll kein Bürger der Beitrittsstaaten Sozialleistungen erhalten, solange er keine Arbeit hat. Eine später eintretende Sozialhilfebedürftigkeit soll zudem zum Verlust der Aufenthaltserlaubnis führen.

In Berlin werden – mit beachtlicher Verzögerung – nun ähnliche nationale Umsetzungslösungen geprüft. Diskutiert wird zudem, ob in Zukunft grundsätzlich das Heimatland für die Sozialleistungen an nichterwerbstätige Zuwanderer zuständig sein soll. Eine solche Praxisänderung wäre vermutlich wirkungsvoll, doch die neuen EU-Länder werden sich darauf nicht einlassen wollen.

swissinfo, Katrin Holenstein

Die EU-Osterweiterung wird nach Ansicht des Wirtschafts-Wissenschafters Hans-Werner Sinn eine massive Einwanderung in die Sozialstaaten Westeuropas nach sich ziehen.

Die Folge werde langfristig eine Erosion der Sozialsystems sein.

In der Schweiz hat man sich gegen einen «Sozialhilfe-Tourismus» mit restriktiven Regelungen abgesichert.

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