Grossätti mit den zwei Baumgesichtern
Grossätti: So heisst die mit einem Stammumfang von 7,70 Meter mächtigste Weisstanne Kontinentaleuropas. Der Grossvater aus dem Kanton Freiburg ist einer der ehrwürdigen Zeitzeugen in Holz, die der Baumforscher und Fotograf Michel Brunner in einem prächtigen Buch vorstellt.
Tief verschneit und in märchenhafter Stille versunken: Der Ärgerawald präsentiert sich an diesem Tag in seinem schönsten Winterkleid.
Auf einmal stehen wir vor ihm: Dem Grossätti, wie die Rekord-Weisstanne im Plasselbschlund im Kanton Freiburg von den Revierförstern genannt wird.
Die respektvolle Bezeichnung wird ihr aber kaum gerecht. Der Baumriese ist ein Ur-Ur-Ur-Urahne, der stumm von der Vergangenheit spricht. Michel Brunner schätzt sie auf 450 bis 500 Jahre, wie der Dendrologe, so heisst der Baumforscher in der Fachsprache, anmerkt.
Die Stürme, die in drei oder eher vier oder fünf Jahrhunderten durch Grossättis Krone und Äste gefegt sind, haben sein Antlitz arg zersaust. Ein Stamm des Mehrstämmers liegt hangaufwärts am Boden, einer der beiden riesigen so genannten Kandelaber-Äste auf der Talseite ist ebenfalls abgeknickt.
Perfekte Überlebensstrategie
Doch Grossätti ist trotz seiner Gebresten sehr lebendig. Davon zeugt, dass der verbliebene Kanderlaber-Ast seinerseits einen neuen solchen ausgetrieben hat – in Form einer mittelstarken Weisstanne.
Die Knolle just unterhalb dieser beiden Stämme ist nicht zufällig dort gewachsen, sondern erfüllt eine präzise «baustatische» Funktion: «Das Druckholz dient zur Abstützung des Gewichts der Kandelaber-Äste», erklärt Michel Brunner.
Seit 12 Jahren ist er an rund 250 Tagen im Jahr auf der Spur der ältesten, grössten, dicksten, kuriosesten und aussergewöhnlichsten Bäume der Schweiz. Im mehrstämmigen Wuchs des Grossvaters sieht Brunner eine perfekte Überlebensstrategie. «Tannen sind wegen ihrer tiefen Pfahlwurzeln, die bis ins Grundwasser reichen, besonders anfällig für Blitzschlag. Hat die Tanne mehrere Kandelaber-Äste, also Stämmlinge, lebt sie weiter, auch wenn sie mehrmals vom Blitz getroffen wird.»
Obwohl Brunner den stolzen Grossätti im Plasselbschlund schon mehrfach besucht hat, ist der Riesenbaum immer noch für Überraschungen gut. Diesmal zeigt er sein zweites Gesicht: Jungenhaft und mit coolem Holzspan im linken Mundwinkel grüsst er lässig unter einer Schneekappe hervor und zeigt den Betrachtern, welch langes Leben er noch vor sich hat.
Bauminventar als Lebenswerk
Bis heute hat der gelernte Grafiker aus Winterthur im ganzen Land 1200 herausragende Baumexemplare gesichtet, fotografiert und in Pro Arbore aufgenommen, das von ihm initiierte Schweizerische Bauminventar. Die schönsten 200 Prachtskerle hat Brunner jetzt in seinem hervorragend bebilderten und äusserst informativen Band «Baumriesen der Schweiz» porträtiert.
Ein Baum ist für Brunner dann ein schutzwürdiges Naturdenkmal, wenn jener die Landschaft oder seine Umgebung prägt, sei dies eine alpine Urlandschaft oder der städtische Raum. Oder er ist aussergewöhnlich alt oder dick.
Auf den Baum gekommen ist Brunner als Ferienbub im Emmental, wo ihn die bekannte Leuenberger-Linde bei Rüderswil beeindruckte. Sie erinnert an Niklaus Leuenberger, den Anführer eines Bauernaufstandes, der 1653 in Bern hingerichtet worden war. Die Linner Linde weckte bei Brunner vollends den Drang, immer noch grössere und dickere Bäume zu entdecken.
Zeugen einer Urlandschaft und Urkraft
War es in den Anfängen der Kick nach dem Rekord, hat sich der Blick auf den Baum des 31-Jährigen auch um eine transzendentale Dimension geweitet. In einem Baumriesen erblickt Brunner einen erhabenen Zeugen einer Urlandschaft, der die Beständigkeit der Natur über Menschengenerationen hinweg symbolisiert.
Der Baum steht ebenfalls für eine Urkraft, die das Lebewesen entgegen der Schwerkraft bis in gewaltige Höhen wachsen lässt. Bäume sind nicht zuletzt ein Quell von Ruhe und Besinnung und bieten Mensch und Tier Schutz und Geborgenheit, etwa bei Unwettern.
Entwicklungsland in Sachen Baumschutz
Ein esoterischer Baum-Umarmer ist Brunner aber nicht. Seine Interessen sind handfester-konkreter Natur: Ziel seines Einsatzes ist die Anerkennung aussergewöhnlicher Bäume als geschützte Naturdenkmäler. Das Pro-Arbore-Inventar bietet dazu das Instrumentarium, analog den Inventaren denkmalgeschützter Bauten, die Gemeinden, Kantone und der Bund führen.
Erstaunlich: Mit seinem Lebenswerk Pro Arbore betritt Brunner in der Schweiz, die sich mancher Naturschönheit rühmt, Neuland. In Bibliotheken findet sich zwar ein «Baumalbum der Schweiz». Aber darauf kann sich Brunner nicht stützen, denn es datiert aus dem Jahr 1900 und enthält ganze 23 Bäume…
Brunner füllt mit dem Bauminventar nicht nur eine Lücke, sondern schlägt auch eine Brücke zum übrigen Europa. «Mit wenigen Ausnahme haben praktisch alle Länder Bauminventare», sagt er.
Der Baum, ein kaum erforschtes Lebewesen
Brunner ist auch kein Fundamentalist. Fällungen stellt er keineswegs in Frage, wenn die Sicherheit von Passanten oder Verkehrsteilnehmern in Siedlungsräumen und Parks durch alte Bäume eindeutig gefährdet ist. Vehement kritisiert er aber den allzu schnellen Griff zur Motorsäge, aus Unwissenheit oder nicht hinterfragtem Nutzdenken heraus.
«Dabei ist das Wachstumspotenzial der Bäume noch kaum erforscht. Die Dendrologie ist auf die Artenvielfalt fokussiert und der Wissensstand der Baumchirurgie steht noch in Kinderschuhen, da dieser Berufszweig noch sehr jung ist», sagt er.
Wenn man aber wisse, dass ein Nussbaum 500 Jahre oder älter werden kann statt nur der bisher angenommenen 150 Jahre, könne man ihn baum-chirurgisch schonender behandeln und ihn am Leben lassen, statt ihn zu zu fällen oder «zu Tode zu pflegen».
Wird der Stamm eines Baumes durch Pilzbefall hohl oder hat dieser dürre Äste, gilt er bei Ortsbehörden gemeinhin als alt und wird zum Fall für die Motorsäge. Ein völliger Irrglaube, sagt Brunner. «Indem der Baum Pilzbefall zulässt und innen hohl wird, entlastet sich der Baum von Gewicht – ein normaler Alterungsprozess. Das zerfallende Holz gibt zudem nährstoffreichen Humus für die Wurzeln ab.»
Untersucht Brunner Bäume, die gegen seinen Rat gefällt wurden, sieht er seine Theorien meist bestätigt. Etwa die der altersangepassten Nährstoffzufuhr. «Die Äste stellen diese mit einer Art Luftwurzel im stamminnern sicher (Adventivwurzel genannt), die im Hohlraum nach unten wachsen», berichtet er.
Erfolge – für Generationen
Obwohl immer mehr Behörden oder Privatpersonen auf das Erfahrungswissen Brunners abstellen, bleiben diese immer noch die Ausnahme. Wie jene Gemeindevertreter in Bayern, welche die Expertise des Schweizer Fachmanns im Falle einer umgestürzten alten Linde beizogen. Nur liegen lassen, die Äste würden neue Wurzeln schlagen, lautete Brunners Ratschlag. «Heute ist die Linde, die mitten auf einem Feld liegt, aber munter weiterblüht, eine Touristenattraktion», sagt Brunner.
Einen Erfolg kann der Winterthurer auch bei anderen Baumindividuen verbuchen. In Zusammenarbeit mit renommierten Baumpflegern konnten auch in der Schweiz einige nationale Highlights vor dem Tod durch Fällung bewahrt werden, so etwa in Bern, Urigen oder Appenzell.
Renat Künzi, swissinfo.ch, Ärgerawald
Mit ihren 1500 Jahren gehört eine Eibe von Crémines im Berner Jura zu den ältesten Bäumen Europas.
Der höchste Baum der Schweiz ist mit 61 Metern eine Douglasie in Madiswil (Kt. Bern).
Der ehemals dickste Baum ist eine Edelkastanie in Chironico (Tessin), deren Stammumfang immer noch 12.55 Meter beträgt.
Der bekannteste Baum der Schweiz ist die «Linner Linde», die um 1350 gepflanzt worden war.
Die eindrücklichste Hainbuche der Welt steht mitten in der Stadt Bern. Die Spannweite ihrer Äste beträgt fast 30 Meter.
Seit 12 Jahren ist Michel Brunner aussergewöhnlichen Bäumen in der Schweiz auf der Spur.
Die Markantesten nimmt er in das von ihm initiierte Schweizerische Bauminventar Pro Arbore auf. Bisher hat Brunner darin 1200 Bäume erfasst, die er als Naturdenkmäler schützen will.
Dank Hinweisen aus der Bevölkerung und von Mitarbeitern der kommunalen Forstdienste kommen immer neue hinzu. Dazu hatte Brunner sämtliche 2700 Gemeinden und Forstbezirke der Schweiz angeschrieben.
Entscheidend bei der Suche war ebenfalls die Mitarbeit eines Kollegen Brunners, der das gesamte SBB-Streckennetz abfuhr.
Über 200 Bäume porträtierte er 2009 in seinem Buch «Baumriesen der Schweiz» (siehe Link). Nachdem die ersten beiden Auflagen innert Kürze ausverkauft waren, erscheint demnächst die 3. Auflage.
2007 hatte er das Buch «Bedeutende Linden, 400 Baumriesen Deutschlands» publiziert (Haupt-Verlag Bern).
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