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Kongress gegen Demokratie

Die AMJ vor den 'Türmen der Macht' in Biel. Die umgebaute Kiesbarke ist 37m lang und bietet Platz für rund 150 Passagiere swissinfo.ch

Ausgerechnet am Abstimmungs- Wochenende fand auf der Arteplage Mobile du Jura (AMJ) ein Kongress gegen Demokratie statt. Die Expo.02 übt den Tabubruch.

«Was wäre geschehen, wenn in der Schweiz über die Expo abgestimmt worden wäre?», fragt Projektleiter Michael Pfister provokativ das Publikum bei der Eröffnung des zweitägigen Kongresses gegen Demokratie. Niemand weiss es, die Demokratie bzw. das Stimmvolk ist unberechenbar und verunsichert zunehmend.

Piraten am Werk

Unberechenbarkeit und Verunsicherung sind auch die Markenzeichen der Arteplage Mobile du Jura (AMJ), einer umgebauten, multifunktionalen Kiesbarke, auf welcher der Kongress stattfindet. Als fünfte Arteplage der Expo kreuzt die AMJ auf den Jura-Seen, legt jeweils für einige Tage bei einer der vier Arteplagen an, will intervenieren und provozieren. Das Piratenschiff AMJ ist die kritische Instanz der Expo, ein Novum für eine schweizerische Landesaustellung.

Unter dem Motto «Sinn und Bewegung» beschäftigt sich die AMJ mit der Kulturgeschichte der Schweizerischen Dissidenz seit der Unabhängigkeitsbewegung des Kantons Jura – dem Paten des Schiffs. Alle drei Wochen ändert die AMJ ihr Programm. Das erste Kapitel wurde mit einem Protestsong-Festival eröffnet und hat «La Suisse politique» zum Thema. Der Kongress gegen Demokratie will nun am letzten politischen Tabu rütteln.

Demokratie – die schlechteste Staatsform

Laut Winston Churchill ist die Demokratie die schlechteste Staatsform, mit Ausnahme aller anderen. Dieses bösartige Bonmot gelte es zu überprüfen, erklärt Michael Pfister, der auf der AMJ für die philosophischen Programmteile zuständig ist. «Der Kongress gegen Demokratie will nicht die Demokratie verbessern, sondern nach Alternativen suchen.»

Niemand kritisiere grundsätzlich die Demokratie. Dies gelte insbesondere für die Schweiz, wo die Identifikation mit der Demokratie sehr stark sei. «Das Land geniesst es, eine Wiege der Demokratie zu sein.» Diese Selbstzufriedenheit will die AMJ stören. Ist der Kongress gegen Demokratie bloss eine Provokation? «Nein, der Kongress ist Ernst gemeint», versichert Pfister.

Ernst und trocken

Das Schiffshorn heult auf und die multifunktionale AMJ wird zum schwimmenden Hörsaal. Langsam lässt das Piratenschiff die Bieler «Türme der Macht» hinter sich und bewegt sich in Richtung Petersinsel, wo einst auch Rousseau über die Herrschaft des Volkes sinnierte. Die Vorhänge sind aufgezogen, damit das Publikum nicht in der platonischen Höhle sitzen muss, sondern philosophisch in die Sonne schauen kann.

Auf dem Programm des ersten Kongresstages steht die historische und theoretische Kritik. Spätestens jetzt wird spürbar, wie ernst der Kongress gemeint ist: Die Referate sind akademisch-trocken und selbst gewagtere Provokationen werden von den vier Rednern ab Manuskript vorgetragen.

Von Athen bis zu den Sans-Papiers

Der deutsche Historiker Steffen Arndt resümiert die zeitgenössische Kritik an der athenischen Demokratie. Der Züricher Literaturwissenschaftler David Ratmoko beklagt den Umstand, dass er nie gefragt worden sei, ob er ein Stimmrecht haben wolle oder nicht und berichtet über seinen erfolglosen Versuch, dieses dem Staat wieder zurückzugeben. Vom Stimmrecht ausgeschlossen werde nur, wer durch Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt worden sei. Diese Ausweglosigkeit führe schliesslich zu Gewalt und Terror.

Michael Gamper, Oberassistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich, untersucht ideengeschichtlich die Entstehung der demokratischen Masse und ihre Kontrolle durch die Regierungen. Als letzter Referent beschäftigt sich der Lausanner Theologe Thierry Laus mit der Definition der Staatsbürgerschaft und der Integration der illegalen Immigranten, der Sans-Papiers in der Schweiz. Die Demokratie sei ein Versprechen und müsse immer wieder neu adaptiert werden, schliesst Laus, der offensichtlich alles andere als ein Anti-Demokrat ist.

Tabubruch blieb aus

Sie habe «vieles nicht verstanden», meint eine Besucherin aus Bern nach der abschliessenden Podiumsdiskussion, wo ohne Erfolg noch einige Klärungen versucht wurden. Zu unklar war das Demokratieverständnis der Referenten: substantielle Probleme der Demokratie kamen nicht zur Sprache und mangels Begriffsklärung verharrte das Wesen der Demokratie im Dunkeln.

Der angekündigte Tabubruch blieb aus, und die Grundfesten der Demokratie gerieten nicht ins Wanken. Dass sich auch konstruierte Probleme wie der Stimmrechtszwang pragmatisch beheben lassen, bewies die clevere Beamtin, der Ratmoko sein Stimmrecht zurückgeben wollte: Sie empfahl ihm, jeweils beim Versand der Stimmunterlagen den Briefkasten zuzukleben.

Hansjörg Bolliger

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