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Marco Reinhard und die Geheimnisse der Materie

Marco Reinhard und ein Teilchenbeschleuniger
Illustration: Helen James / SWI swissinfo.ch

Vor neun Jahren kam er eher zufällig nach Kalifornien. Heute erforscht der gebürtige Burgdorfer Marco Reinhard in Stanford das Innere der Materie am SLAC, dem grössten Linearbeschleuniger der Welt.

«Ich hatte nie wirklich davon geträumt, nach Kalifornien zu gehen. Ich stand kurz vor dem Abschluss meiner Doktorarbeit und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Dann ergab sich diese Gelegenheit, und alles ging sehr schnell.»

Einen Monat, nachdem er die Zusage von SLAC erhalten hatte, zog Marco Reinhard 2014 mit seiner Freundin, die inzwischen seine Frau und Mutter der beiden Kinder ist, ins Silicon Valley.

Reinhard hätte aber auch ganz woanders landen können, denn er hatte sich an ganz unterschiedlichen Orten beworben.

Marco Reinhard beim Interview
Marco Reinhard beim Interview in seinem Büro im SLAC. swissinfo.ch

«Ich war zuvor schon einmal in Kalifornien im Urlaub, und es hatte mir sehr gut gefallen. Aber ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, einmal dort zu leben. Und vor allem hatte ich keine Ahnung, dass dieser Ort so viel zu bieten hat.» Neben der Stanford University, meint er.

Die Schule der zukünftigen Giganten

Das Valley wäre ohne die Ende des 19. Jahrhunderts vom kalifornischen Gouverneur und Senator Leland Stanford und seiner Frau Jane gegründete Universität nicht das, was es heute ist.

Stanford gehört regelmässig zu den drei besten Universitäten der Welt und zeichnet sich generell in den Naturwissenschaften und speziell in der Informatik und den Ingenieurwissenschaften aus.

Die Universität zieht die besten Professorinnen, Professoren und Studierenden aus allen fünf Kontinenten an und dient als Brutstätte für Startup-Unternehmen, von denen einige weltweit erfolgreich sind.

Und das nicht erst seit gestern: 1909 gründete der Stanford-Student Cyril Frank Elwell die Federal Telegraph Company, eine der ersten Firmen der Welt, die «TSF»-Geräte herstellte, wie man damals Radios nannte.

Dreissig Jahre später begannen Bill Hewlett und David Packard in einer Garage an Messgeräten zu basteln, was zur Tradition werden sollte. 1966 produzierte HP seinen ersten Computer.

Andere kleine Genies aus Stanford (und dessen Garagen): Robert Noyce, Mitbegründer von Intel 1968, Steve Jobs, Mitbegründer von Apple 1976, Jerry Yang und David Filo, die 1994 «Yahoo!» gründeten, Larry Page und Sergey Brin mit Google 1998 und zuletzt Elon Musk, Gründer von «SpaceX» und des Autoherstellers Tesla.

Haupteingang zum Stanford-Campus
Der Haupteingang zum Stanford-Campus. swissinfo.ch

Verschwendete Energie – nicht für alle!

Marco Reinhard ist nicht ins Silicon Valley gekommen, um ein Startup zu gründen. Und auch nicht, um auf dem Campus von Stanford zu leben, den er – abgesehen von den Sportanlagen – eher selten besucht.

Er hat an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) studiert und fand in Kalifornien die Möglichkeit, seine Forschung im Bereich der Röntgenspektroskopie am SLAC (Stanford Linear Accelerator CenterExterner Link) fortzusetzen.

Mitten im Boom der Teilchenphysik, nach dem Cern in GenfExterner Link und noch vor dem Fermilab in ChicagoExterner Link, wurde 1962 das SLAC gegründet. Es setzte in seinem 3,2 Kilometer langen, geraden Tunnel zunächst auf Linearbeschleunigung.

Hier werden winzige «Materiekörner» mit nahezu Lichtgeschwindigkeit auf Ziele oder gegeneinander geschossen. Deren Zerplatzen gibt Aufschluss über die Struktur der Materie und die sie zusammenhaltenden Grundkräfte.

Während sich die Teilchen in den beiden anderen damaligen Giganten im Kreis drehten, flogen sie im SLAC geradeaus.

Mit dieser Eigenschaft hätte die Maschine in Stanford bei der Suche nach dem berühmten Higgs-Boson, das 2012 in Genf entdeckt wurde, nicht mit dem LHC (Large Hardon ColliderExterner Link) am Cern mithalten können – trotz der Zusammenarbeit der beiden Institutionen.

Doch Ringbeschleuniger haben auch Nachteile. Vor allem die Tatsache, dass die Teilchen Energie verlieren, wenn sie sich in Rotation befinden. Diese wird in Form von Strahlung abgegeben, die umso stärker ist, je schneller die Teilchen rotieren.

Die Physikerinnen und Physiker haben relativ schnell herausgefunden, wie sie diesen «Nebeneffekt» ihrer Maschinen nutzen können. Wie Reinhard erklärt, können beschleunigte Teilchen Röntgenstrahlen erzeugen, deren Eigenschaften weit über das hinausgehen, was man von Röntgengeräten in der Medizin erwarten würde. Diese Strahlen bieten den Forschenden ein einzigartiges Werkzeug, um das Allerkleinste zu erforschen.

Heute verfügt das Labor über zwei Beschleuniger-Röntgenquellen: die Stanford Synchrotron Radiation LightsourceExterner Link (SSRL) und die Linac Coherent Light SourceExterner Link (LCLS).

Letztere wurde 2009 in Betrieb genommen und ist der weltweit erste Freie-Elektronen-Laser für harte Röntgenstrahlung – «eine neue Klasse von Maschinen, welche die Grenzen der auf Röntgenstrahlung basierenden Wissenschaft weiter verschoben hat».

Durch die Umnutzung und Erweiterung seiner Infrastruktur hat sich das SLAC zu einem neuen interdisziplinären Forschungsstandort entwickelt, an dem nicht nur Physikerinnen und Physiker, sondern auch Chemikerinnen, Biologen oder Medizinerinnen arbeiten.

Messungen im Femtosekundenbereich!

Reinhard ist weder Biologe noch Mediziner. Als Physiker, der sich der Grundlagenforschung verschrieben hat, treibt ihn vor allem «die Neugier an, möglichst viel über die Natur zu erfahren».

Sein Spezialgebiet sind die ultraschnellen Röntgenpulse, die von den beiden Maschinen des SLAC erzeugt werden und die es ermöglichen, chemische Reaktionen auf molekularer Ebene in Echtzeit zu «filmen», das Auf- und Entladen einer Batterie zu verfolgen oder zu sehen, wie Elektronen durch einen Computerchip fliessen.

Viele metallische Instrumente und viele Kabel
An solchen Maschinen führen die Forschenden des SLAC ihre Experimente durch. swissinfo.ch

«Ich arbeite hauptsächlich an Experimenten, bei denen superschnelle Laserpulse verwendet werden, um eine chemische Reaktion, einen biomolekularen Prozess oder die Umwandlung in ein neues funktionales Material auszulösen und zu beobachten», sagt der Physiker.

Die Genauigkeit des LCLS liegt im Femtosekundenbereich, das ist ein Trilliardstel einer Sekunde.

Sehr beeindruckend. Aber wozu dient das eigentlich? Marco Reinhard nennt ein Beispiel: energetische Materialien. «Man kann in Echtzeit sehen, wie Teilchen, die eine elektrische Ladung tragen, in einem Material eingefangen werden oder sich neu verbinden. Das ist sehr nützlich, um zum Beispiel den Wirkungsgrad einer Solarzelle zu verbessern.»

Auf einem anderen Gebiet arbeiten Teams am SLAC an der Photosynthese, dem natürlichen Prozess, bei dem grüne Pflanzen mit Hilfe von Sonnenenergie Kohlendioxid und Wasser in Sauerstoff und Kohlenhydrate umwandeln.

Denn auch mehr als 200 Jahre nach den ersten Arbeiten über die Photosynthese weiss man noch nicht bis ins letzte Detail, wie sie funktioniert. Und es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welche Möglichkeiten sich eröffnen würden, wenn es gelänge, eine künstliche Photosynthese zu bewerkstelligen.

>> In diesem vom SLAC produzierten Video (auf Englisch) erfahren Sie, wie das LCLS die unglaublich schnellen Bewegungen von Atomen und Molekülen einfängt.

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Die Community

Vor der industriellen Anwendung steht allerdings viel Grundlagenforschung. Und diese findet nicht nur am SLAC statt. Weltweit gibt es heute mehr als 50 Beschleuniger-Röntgenquellen.

In der Schweiz betreibt das Paul Scherrer Institut die Swiss Light SourceExterner Link (SLS), an der Reinhard einige Experimente seiner Doktorarbeit durchführte, damals noch mit hundertfach geringerer Zeitpräzision. In zehn Jahren hat die Technik einen Quantensprung gemacht.

Wie die meisten ähnlichen Laboratorien weltweit stellt das SLAC seine Forschungsergebnisse anderen Forschenden kostenlos zur Verfügung.

Zusammenfassungen werden in wissenschaftlichen Zeitschriften mit Peer-Review veröffentlicht, die Rohdaten sind online für die gesamte Community zugänglich – und das ist hier kein leeres Wort.

Diesen Aspekt seiner Arbeit schätzt Reinhard besonders: «Die Community, die Menschen, der Austausch, die Offenheit – all das ermöglicht es einem, sich selbst zu sein, neue Ideen zu erforschen und sie mit denen anderer zu vergleichen.»

Auch wenn hier von einer grenzenlosen Community die Rede ist, fehlt es nicht an Konkurrenz. «Man muss darum kämpfen, Zeit an der Maschine zu bekommen, um ein Experiment durchzuführen», sagt Reinhard.

«Das führt dazu, dass Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt an gemeinsamen Vorschlägen arbeiten. Und dann kommen all diese Leute hierher, um das Experiment durchzuführen.» Die meisten von ihnen kehren danach aber wieder zurück.

Die Sehnsucht nach den Jahreszeiten

Ob Reinhard jemals wieder in die Schweiz zurückkehren wird? Er gibt zu, dass er und seine Familie sich in Kalifornien sehr wohl fühlen. Aber das beständige Wetter macht ihm manchmal zu schaffen.

«Ich vermisse den Regen, den Schnee und die Tage, an denen man es sich zu Hause gemütlich machen kann, während es draussen richtig kalt ist», sagt er.

Und nicht nur das. «Ich habe die Schweiz nicht verlassen, weil ich dort unglücklich war. Und seit ich hier bin, realisiere ich, wie schön sie ist.»

Ursprünglich wollte er ein Jahr im Silicon Valley bleiben. Das war vor neun Jahren. Jetzt, mit 42 Jahren, ohne spezifische Pläne dafür zu haben, sage er sich: «Es ist ziemlich sicher, dass wir eines Tages wieder in der Schweiz leben werden.»

Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem  Französischen: Christian Raaflaub

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