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Schweiz zur Nazizeit: Umstrittenes Lehrmittel

"Hinschauen und Nachfragen": Das umstrittene neue Geschichtslehrmittel. swissinfo.ch

Die Schweiz in der Zeit des Nationalsozialismus ist Thema eines neuen Geschichtslehrbuchs des Zürcher Lehrmittelverlags.

Das Buch «Hinschauen und Nachfragen» berücksichtigt die neusten Forschungsergebnisse und Diskussionen – und ist höchst umstritten.

Das neue Lehrmittel für 14- bis 18-Jährige ist weder eine blosse Zusammenfassung der Arbeiten der Bergier-Kommission, der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK), noch eine offizielle Geschichtsschreibung.

Laut der Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli befasst es sich mit dem Phänomen, dass historische Deutungen vielfältig seien und sich im Laufe der Zeit durch zusätzliche Erkenntnisse verändern könnten.

Kompetenzen für historisches Lernen

Gemäss Bildungsexperte Peter Gautschi will das neue Lehrmittel grundlegende Inhalte aus der Vergangenheit und elementare Kompetenzen für historisches Lernen vermitteln.

Zusammen mit der Historikerin Barbara Bonhage war Gautschi Leiter des vierköpfigen Autorenteams. Ein Beirat begleitete die Arbeit, dem namhafte Historiker angehörten.

Laut Bonhage sind die neuen Erkenntnisse der UEK über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg im neuen Lehrmittel berücksichtig worden.

Reges Interesse der Lehrerschaft

«Wir sind überrascht, dass nur wenige Tage nach der Präsentation bereits über 1200 Exemplare abgesetzt worden sind», sagt Peter Feller, Leiter des Lehrmittelverlags des Kantons Zürich, gegenüber swissinfo.

Feller schliesst dabei eine Pionierrolle des Kantons Zürich nicht aus. «Ich kann mir gut vorstellen, dass nach der ersten hitzigen Debatte, wenn sich der Pulverdampf etwas verzogen hat, andere Kantone das Lehrmittel in Ruhe anschauen und es dann anwenden.»

Harte rechtsbürgerliche Kritik

Vor und nach der Veröffentlichung kritisierten rechtsbürgerlichen Kreise, das Lehrmittel folge weitgehend den Erkenntnissen der Bergier-Kommission.

Für Nationalrat Luzi Stamm von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ist das neue Schulbuch gar «schlimmer als der Bergier-Bericht selbst». Der «selbstanklägerische Grundton» stehe für ein «verfehltes Geschichtsbild».

Verbot für fakultatives Lehrmittel?

Die Zürcher SVP will nicht, dass das neue Geschichtsbuch in die Schulzimmer kommt. Es dient gemäss der Partei nicht der Wahrheitsfindung, sondern sei «linke Geschichtsschreibung».

Die SVP will nun in den Schweizer Kantonsparlamenten Vorstösse einreichen, damit das Buch nicht zum Unterricht zugelassen wird.

Bei «Hinschauen und Nachfragen» handelt es sich allerdings um ein fakultatives Lehrmittel, das von den Lehrkräften im Unterricht verwendet werden kann, aber nicht muss.

Noch nie derart massive Kritikwelle

Verlagsleiter Peter Feller hat zwar mit Widerstand gerechnet. Umfang und Ton der Kritik hätten aber überrascht. «Wir sind mit den Autorinnen und Autoren sehr sorgfältig an die Herausgabe dieses Werks herangegangen.» Man habe sich allergrösste Mühe für eine ausgewogene Darstellung gegeben.

«Ich bin jetzt 37 Jahre im Lehrmittelverlag tätig, aber eine solche Kritikwelle ist uns noch nie entgegengekommen. Das geht bis zu Drohungen, den Verlag in die Luft zu sprengen», sagt Feller.

Keine Überraschung

Den renommierten Historiker Hans-Ulrich Jost überrascht die massive rechtsbürgerliche Kritik am neuen Lehrmittel nicht. «Seit über 20 Jahren provoziert der Blick auf den Zweiten Weltkrieg immer noch heftige Emotionen», sagt Jost gegenüber swissinfo. «Und provoziert offenbar radikale, rechtsbürgerliche Kreise zu völlig unverhältnismässigen Mitteln wie Drohungen.»

Das stehe in der gleichen Tradition wie die Polemik gegen seine 1983 erschienene «Geschichte der Schweiz und der Schweizer», die erstmals die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg kritisch hinterfragt habe.

«Jetzt geht dieser Kampf weiter, wobei ganz klar ist, dass die SVP mit ihren wichtigen Vertretern wie Luzi Stamm offensichtlich ganz bewusst diese Stimmung schürt.»

Ein Blick in die West-…

In der Westschweiz habe man die Lehrmittelfrage in Sachen Zweiter Weltkrieg anlässlich der Herausgabe seines Buches diskutiert, erklärt Jost.

«Damals dominierte in der Romandie praktisch ein Geschichtslehrbuch, jenes vom freisinnigen alt Bundesrat Georges-André Chevallaz.» Dieses Lehrmittel sei bei Lehrern und Schülern «sehr unbeliebt und völlig unhaltbar bezüglich der Geschichte des 20. Jahrhunderts» gewesen. «Mein Buch ersetzte dann praktisch jenes von Chevallaz.»

Seither sei grundsätzlich kein neues Lehrmittel herausgekommen, obwohl Sachbearbeiter in einzelnen Kantonen versuchten, jetzt auch die neusten Erkenntnisse des Bergier-Berichtes in den Unterricht einzubringen.

…und Südschweiz

Im Kanton Tessin wird Schweizer Geschichte im Rahmen der europäischen Geschichte gelehrt. Ein Lehrmittel wie «Hinschauen und Nachfragen» oder «Geschichte der Schweiz und der Schweizer» gibt es allerdings nicht.

Dem Lehrpersonal steht es frei, die Ergebnisse des Bergier-Berichtes, der auf Italienisch nur in kleiner Auflage erschienen ist, in den Unterricht einfliessen zu lassen.

Am 21. März wird an allen Tessiner Schulen auf Anweisung der kantonalen Erziehungsdirektion der Holocaust-Gedenktag durchgeführt. In der Schweiz wurde er nach einem Beschluss der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) erstmals 2004 begangen. Offiziell findet der Tag am 27. Januar statt, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945.

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

2001 verlangte ein parlamentarischer Vorstoss, die Forschungs-Erkenntnisse der Bergier-Kommission in Lehrmitteln einzubeziehen.

Die Schweizer Regierung teilte 2002 mit, dies sei nicht Aufgabe des Bundes. Ein entsprechendes Engagement der Kantone würde sie jedoch begrüssen.

2003 verabschiedete der Bildungsrat des Kantons Zürich das Konzept für das neue Lehrmittel.

Anfang März 2006 präsentierte die Bildungsdirektorin des Kantons Zürich, Regine Aeppli, das neue Geschichtslehrmittel «Hinschauen und Nachfragen».

Es ist als Ergänzung zum offiziellen Geschichts-Unterricht gedacht. Die Anwendung ist freiwillig.

«Hinschauen und Nachfragen – Die Schweiz und die Zeit des Nationalsozialismus im Licht aktueller Fragen» (152 S.) ist in 5 Hauptkapitel gegliedert:

Menschen in der Schweiz zur Zeit des 2. Weltkriegs, die Schweiz im Zeitalter der Weltkriege, Geschichte kontrovers, die Schweiz und das Deutsche Reich 1933-1945 sowie Anerkennung und Wiedergutmachung von vergangenem Unrecht.

Das Schlusskapitel schlägt den Bogen zu Südafrika und dem ehemaligen Jugoslawien.

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