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Wenn es kalt wird…

In der Schweiz sind Obdachlose weniger sichtbar als beispielsweize, wie im Bild, in Rumänien. Es gibt sie aber trotzdem. (Keystone) Keystone

In Osteuropa sind in den letzten kalten Wochen bereits Menschen erfroren, meist Obdachlose. Auch hierzulande gibt es immer wieder solche Fälle.

Die Behörden und weitere Organisationen öffnen Notschlafstellen – und hoffen, dass das reicht.

«Wenn es ganz kalt wird, rücken wir näher zusammen – der Atem wärmt», sagt ein von Obdachlosigkeit Betroffener. Stefan* wohnt mit fünf bis sechs Personen in einem Eisenbahnwagen auf einem Berner Abstellgleis – nicht den ersten Winter.

Kältetod – öffentlicher Schock

Dass Menschen in der Schweiz auf der Strasse leben, ist nicht neu. Vor einem Jahr – mitten in der Adventszeit – erfror eine 60-jährige obdachlose Frau in Lausanne. Ein Strassenreiniger fand den leblosen Körper in einer öffentlichen Toilette.

«Das hat alle aufgerüttelt, es wird seither viel mehr gemacht», sagt Strassen-Pfarrer Étienne Visinand. In Lausanne öffneten die Behörden Anfang Dezember dieses Jahres eine zusätzliche Notschlafstelle in einem Zivilschutzbunker. Die Stadt bietet damit insgesamt 80 Schlafplätze an. Auch die Stadt Genf stockte ihr Angebot um 25 Betten auf.

Überall möglich

«Wir können nicht ausschliessen, dass jemand erfriert», sagt Michael Herzig, Drogenbeauftragter der Stadt Zürich. «Im letzen Winter haben wir jemanden aufgesammelt, der sonst wahrscheinlich erfroren wäre.»

«Die Kälte ist schon da. Wenn jemand erschöpft oder ‹verladen› einschläft, kann das wieder passieren», schätzt Hans* vom Verein «Kirchliche Gassenarbeit Bern» (kgb) die Situation ein.

Die Gassenarbeiter der kgb versuchen Menschen notfallmässig unterzubringen. Keine einfache Aufgabe. «Es ist schon vorgekommen, dass wir Leute wegschicken mussten, weil wir keine Unterkunft fanden», sagt Oliver.

Zuwenig oder genug Betten?

«Ich kann nicht verstehen, weshalb es nicht genug Schlafplätze gibt», sagt Martin Fund von «Gasse z’Nacht». Der Verein verteilt in Bern warmes Essen auf der Strasse. «Ich rede jeden Winter mit ungefähr zehn Personen, die gar kein Obdach haben», ergänzt der Sozialpädagoge.

Dass es zu wenig Schlafplätze gebe, bestreitet Luc Mentha, Generalsekretär der Direktion für Soziale Sicherheit in Bern: «Die Auslastung unserer Schlaf-Angebote ist hoch, aber es besteht keine Unterversorgung.»

Für die Wintermonate öffnete die Stadt eine Notschlafstelle mit 10 Plätzen für Drogenabhängige; offiziell bietet die Stadt damit 43 solche Betten an. «Wer sich bei uns meldet, dem finden wir ein Bett», verspricht Mentha. Er verweist auf private Notschlafstellen, das Passantenheim der Heilsarmee und Projekte für begleitetes Wohnen.

Die Heilsarmee hat in Bern einen Leistungsvertrag mit der Stadt. Aber auch national geht ohne die über 100-jährige Institution nichts, wenn es um Notbetten geht. «In der ganzen Schweiz haben wir 273 Betten für Obdachlose», sagt Marianne Lanz, Sekretärin der Abteilung Sozialwerk der Heilsarmee.

Zürich: Sozialarbeiter auf Patrouille

«Wir wollen Obdachlose unkompliziert und schnell unter ein Dach holen», sagt der Zürcher Obdachlosen- und Drogenpfarrer Ernst Sieber. In diesem Winter hat der Pfarrer einen Wohnmobil-Sattelschlepper mit 20 Schlafplätzen, Dusche und WC, am Stadtrand aufgestellt.

In der grössten Schweizer Stadt läuft auch diesen Winter das «Kältepickett» des Projektes «Sicherheit, Intervention, Prävention» (sip züri) der Stadt. «Wir gehen die Leute aktiv suchen, das macht sonst niemand», erklärt der Zürcher Drogenbeauftragte Herzig. » Wenn wir nicht verantworten können, jemanden auf der Strasse zu lassen, dann zwingen wir die Person, in eine Institution zu gehen», sagt Herzig. Notfalls werde die Polizei gerufen.

Von diesem Vorgehen wollen gassennahe Institutionen wie die kgb nichts wissen. «Wir fordern niederschwellige Angebote, die alle in Anspruch nehmen können, keine angeordneten Freiheitsentzüge», kommentiert Oliver.

Obdachlos bei Freunden und Verwandten

Obdachlos ist nicht nur, wer draussen schlafen muss, sondern auch, wer keine eigene Wohnung hat.

«Nach meinem Entzug habe ich fast zwei Monate bei meiner Mutter, meiner Schwester und Grossmutter gewohnt; immer drei bis vier Nächte lang», sagt Markus*.

«Dann übernachtete ich bei Kollegen und Bekannten. Eine Nacht habe ich ganz draussen geschlafen, weil ich so spät nicht mehr klingeln wollte.»

swissinfo, Philippe Kropf

* Die Namen der Betroffenen wurden zum Schutz der Persönlichkeit geändert. Sie sind der Redaktion bekannt.

In jeder grösseren Schweizer Stadt gibt es Odachlose. Eigentlich müssten sich die Herkunftsgemeinden um sie kümmern, meist fällt diese Aufgabe aber den Städten zu.

Diese suchen Wohnlösungen und stellen Notbetten. Ohne private Initiativen und Hilfswerke geht jedoch nichts.

Gassennahe Institutionen bemängeln die «Spielregeln» der offiziellen Angebote; sie fordern niederschwellige Angebote.

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