Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Wie viel Reformen braucht das Land?

Networking unter dem Motto "Shake up the Status Quo". Im Bild: eine Pause.

Von "digitalen Analphabeten", "bürgerlichem Sozialismus" und Steuersenkungen: am Swiss Economic Forum Thun diskutierten Schweizer Persönlichkeiten über Wirtschafts-Wachstum und Reformstau.

Das Forum definiert sich als eine der wichtigsten Wirtschaftsveranstaltungen der Schweiz. 1200 Führungskräfte besuchen die Networking-Plattform.

Dresscode dunkelgrauer oder schwarzer Anzug: Das Bild entspricht den real existierenden Führungsetagen im Land. Männer stellen die überwältigende Mehrheit. Frauen amten als Hostessen und schenken Kaffee aus.

Später spricht eine Frau auf dem Podium zum Thema «Shake up Switzerland». Sie hat es in Deutschland zur Professorin und in den Rat der Wirtschaftsweisen gebracht.

«Von aussen betrachtet hat sich die Schweiz vom Sonderfall zum Normalfall entwickelt», stellt Beatrice Weder di Mauro fest. «Der Rest der Welt hat sich verändert, ist normal geworden. Wohlstand wird auch anderswo generiert. Der Euro ist stabil und stark.»

Das Beispiel der WTO, die mit einem Wegzug aus Genf drohe zeige, dass die Schweiz Partner brauche, wenn sie ihre Stellung halten wolle.

«Wir haben den Aufschwung in Deutschland im Rat der Wirtschaftsweisen nicht voraus gesehen und haben ihn nicht in dieser Stärke und zu diesem Zeitpunkt erwartet», räumt Weder di Mauro ein.

Qualifizierte Ausländer willkommen

Der Vordenker der Schweizerischen Volkspartei, Nationalrat Christoph Mörgeli, zweifelt am Aufschwung im grossen Nachbarland. «Wieso ist denn die Schweiz zurzeit die wichtigste Destination deutscher Auswanderer?»

Dem Land gehe es besser, seit Parteikollege Christoph Blocher in der Regierung sei, freut sich Mörgeli. «Wenn Blocher noch 24 Jahre im Amt bleibt, dann haben wir unsere Probleme gelöst.»

Das Rezept: Steuern müssen runter, und «wir dürfen den Zustrom aus dem Ausland zum Sozialstaat nicht dulden», sagt Mörgeli und zeigt sich erfreut darüber, dass Schweizer Unternehmen auch dank qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland erfolgreich Wachstum generierten.

«Bürgerlicher Sozialismus»

Peter Bodenmann, Hotelier und einstiger Präsident der Sozialdemokraten, moniert die «seit 12 Jahren anhaltende» Stagnation. «Die Hochpreisinsel muss weg, Parallel-Importe müssen zugelassen und die Agrarsubventionen abgeschafft werden.»

Unterstützung erhält der Linke von einem liberalen Kritiker des schweizerischen Politsystems, dem emeritierten Wirtschafts-Professor Walter Wittmann.

Dieser empfiehlt, die Landwirtschaft dem freien Markt zu überlassen und gleichzeitig die Post, die Swisscom und den Energiesektor zu privatisieren.

«Der Staat muss Ausgaben und Steuern senken, ganz klar. Wir sollten jedoch aufhören, auf den Linken herumzureiten, denn die Mehrheit im Parlament ist bürgerlich. Wir haben einen bürgerlichen Sozialismus.»

Markt- oder Planwirtschaft?

«Steuererleichterungen ja», sagt auch der linke Bodenmann, «aber nicht für die Reichen, sondern für die kleinen und mittleren Einkommen.»

Wittmann kontert und behauptet: «Die unteren Schichten zahlen ja gar keine Steuern mehr. Die kann man nicht entlasten.»

Mörgeli wirft der Linken vor, sie verfolge mit ihren Forderungen nach dem Ausbau des Sozialstaates eine «materialistische Politik» und verteidigte die Bauern, also die Stammwähler seiner Partei.

«Es gibt keine Landwirtschafts-Subventionen, das sind Leistungsabgeltungen. Der Staat entschädigt die Bauern für eine Arbeit, die man auf dem Markt nicht leisten kann.»

Wittmann, Sohn eines Bergbauern, bezichtigt Mörgeli des Widerspruchs: «Bauern im Unterland haben sehr wohl einen Markt. In den Bergen würde es reichen, wenn die Schüler in den Sommerferien einmal jährlich mähen würden.»

Bundesräte: «digitale Analphabeten»

In einem sind sich die drei Herren einig: Ihre Reform-Vorstellungen werden realpolitisch nicht umgesetzt werden. Wittmann erinnert daran, dass einige seiner Postulate «bereits seit den 1950er-Jahren auf dem Tisch sind».

Bodenmann bezeichnet die Mitglieder der Landesregierung als «digitale Analphabeten», die sich «nicht mit der Zukunft beschäftigen» und nennt als Beispiel den «mangelnden Strukturwandel in öffentlichen Verkehr».

Jede Märklin-Eisenbahn funktioniere ohne Lokführer, aber computergesteuerte, führerlose Züge seien in der Schweiz kein Thema. «Da werden Potentiale eindeutig nicht ausgeschöpft.»

swissinfo, Andreas Keiser, Thun

Das Swiss Economic Forum findet vom 3. – 4. Mai 2007 zum 9. Mal statt und steht unter dem Motto «Shake up the Status Quo».

Ebenfalls zum 9. Mal wird der Preis für die besten Schweizer
Jungunternehmen vergeben.

Der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Annan wird für sein Lebenswerk und seinen unermüdlichen Einsatz für den Frieden mit dem Spezial-Award geehrt.

Die Teilnehmerzahl ist auf 1200 beschränkt, die Tickets sind jeweils innert einer Stunde ausverkauft.

2007 wurden die Teilnehmer erstmals per Losentscheid bestimmt – über 600 Interessenten mussten abgewiesen werden.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft