Warum sind 7 von 10 Häftlingen in der Schweiz Ausländer?
Die Kaufkraft der Bevölkerung, die grosse lokale Nachfrage nach Drogen und die demographische Zusammensetzung geben einige Hinweise, um den Sonderfall Schweiz zu verstehen.
Auf Wunsch einiger Leserinnen und Leser von swissinfo.ch und in Zusammenarbeit mit Marcelo Aebi, Vizerektor der Schule für kriminalistische Wissenschaften der Universität Lausanne und Verantwortlicher für die jährlichen Kriminalstatistiken des Europarats, gehen wir den Ursachen für den hohen Anteil ausländischer Häftlinge in der Schweiz auf die Spur.
Während laut der vom Europarat in Auftrag gegebenen und kürzlich veröffentlichten Studie SPACE IExterner Link über Gefängnisse in Europa von Marcelo AebiExterner Link und Mélanie M. Tiago der Universität Lausanne (UNIL) der Ausländeranteil an der Gefängnisbevölkerung in Europa 15,9% beträgt, beläuft er sich in der Schweiz auf 71,4%.
Einzuwenden ist, dass die Zahlen für Nord- und Westeuropa eindeutig höher sind als für Mittel- und Osteuropa.
Monaco (39’000 Einwohner), Andorra (80’000), Liechtenstein (38’000) und Luxemburg (600’000) stehen an der Spitze, doch unter den Staaten mit mehr als einer Million Einwohnern liegt die Schweiz an erster Stelle.
Nach den erwähnten Kleinststaaten hat die Schweiz in Europa den grössten Anteil an ausländischer Bevölkerung: 25% oder 2’126’392 Personen.
«Knapp drei von zehn Einwohnern sind Ausländer mit legalem Aufenthalt, die vor dem Gesetz dieselben Rechte und Pflichten haben wie die einheimische Bevölkerung. Diese Klarstellung ist notwendig, um die Statistiken über die Gefängnisbevölkerung zu erklären und nicht in die Falle des populistischen Diskurses der Vermutungen zu gehen», meint Aebi.
Von der gesamten Anzahl Inhaftierten (6863 Personen) leben 49,3% legal in der Schweiz – Schweizer und Ausländer mit Wohnsitz –, 9,6% sind Asylsuchende und 41,1% «andere Ausländer und Ausländer mit unbekanntem Status.»
Zur letzten Kategorie gehören laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) «Ausländer ohne Wohnsitz in der Schweiz, Grenzarbeiter mit G-Bewilligung (d.h. mit Aufenthaltsbewilligung in Nachbarländern und Arbeitsbewilligung in der Schweiz), ‹Sans Papiers› und Touristen.»
Ausländer ohne Wohnsitz in der Schweiz machen nur 34% der Gefängnisinsassen aus und 49% derjenigen, die in Untersuchungshaft sitzen. Eine Trennung beider Kategorien ist somit angebracht.
Die Kantone Zürich, Genf und Waadt stehen mit 48% an der Spitze für UntersuchungshaftExterner Link und geben einen Einblick in die Lage dieser Häftlinge ohne Aufenthaltsbewilligung.
In GenfExterner Link, zum Beispiel, sind 95% Männer, und sieben von zehn sind jünger als 35 Jahre. 2014 stammten 71% aus Afrika und vom Balkan, gefolgt von denjenigen aus dem übrigen Europa, Amerika und dem mittleren Osten.
«In den Kantonen Waadt und Zürich ist das Bild ähnlich. Viele sitzen in Untersuchungshaft, weil sie zusätzlich zur Verletzung der Einwanderungs-Gesetzgebung auch andere Delikte begangen haben. Ohne festen Wohnsitz in der Schweiz bleiben sie bis zum Urteil und zur Vermeidung der Flucht in Untersuchungshaft», ergänzt Aebi.
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Dazu kommen diejenigen, die aus den Nachbarländern nur zum Delinquieren in die Schweiz einreisen: Franzosen, Italiener und Deutsche, aber auch Algerier, Albaner und Rumänen, um nur einige zu nennen.
Zu den neueren Fällen gehören Einzelpersonen und Mitglieder rumänischer Verbrecherbanden, die über Frankreich in die Schweiz kommen.
«Die Schweizer Bevölkerung hat eine hohe Kaufkraft. Aus diesem Grund ist das Land als potenzieller Markt für im Ausland hergestellte Drogen interessant, und es gibt auch viele Wertsachen, die gestohlen und im Ausland weiterverkauft werden könnten», sagt Aebi.
«Ausländische Häftlinge, die keinen Wohnsitz in der Schweiz haben, werden oft bis zum Zeitpunkt des Prozesses in Untersuchungshaft gehalten und nach der Verurteilung aus dem Land ausgewiesen, im Gegensatz zu nationalen Häftlingen, die, wenn die Straftat nicht sehr schwerwiegend ist, in der Regel auf Bewährung bis zum Prozess entlassen werden».
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Der Kriminologe streicht hervor, dass in der Schweiz nur relativ schwerwiegende Verbrechen eine Haftstrafe bedingen: «Ungefähr 11% für Mord, 15% für Drogenhandel, 20% für Verbrechen gegen Eigentum und über 10% für sexuelle Vergehen. Bei der Verurteilung machen Schweizer Richter keinen Unterschied zwischen der Herkunft der Angeklagten.»
«Richter in der Schweiz machen bei einer Urteilsfällung keinen Unterschied zwischen der Herkunft des Angeklagten.»
Marcelo Aebi
Im Herzen Mitteleuropas verfügt die Schweiz über ein gutes Verkehrsnetz mit den Nachbarsstaaten, weshalb sie der Mittelpunkt vieler Aktivitäten und eines der reichsten Länder der Welt ist. Dies ist ein weiterer Grund für Delinquenz: soziale Ungleichheit, die weit über die Schweiz hinausreicht.
«Wegen ihres Reichtums ist sie auch ein wichtiger Drogenmarkt. Die Kundschaft hat eine grössere Kaufkraft als diejenige der Nachbarländer», betont Aebi.
Als Beispiel dient, dass in der Schweiz jährlich 5 Tonnen Kokain im Wert von 330 Millionen Franken konsumiert werden.
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Auch wenn es nicht ein einziges Profil gibt, kann man laut dem Experten doch bestätigen, dass Kriminalität in der Schweiz und folglich die Gesamtbevölkerung hinter Gittern «unabhängig von der Herkunft vorwiegend männlich, städtisch und jung ist». Nur 5,5% sind Frauen.
Hinzu kommt nach Aebi, dass «sich die ausländische Wohnbevölkerung seit den 1990er-Jahren verdoppelt hat und so das Bevölkerungswachstum ankurbelte: 20% in den letzten 30 Jahren.» Die Bevölkerung mit Schweizer Pass altert und die ausländische ist jünger, «was indirekt die Kriminalstatistik und die Gefängnisbevölkerung beeinflusst, wo Männer zwischen 20-50 Jahren überwiegen».
Laut den Kriminalstatistiken von 2018 sind weniger als 40% der Personen mit einem von der Polizei registrierten Delikt Ausländer. Aebi ebenso wie andere Forscher bestätigen, dass «in der Schweiz die Farbe des Passes keine bestimmende Variable zur Messung der Kriminalität ist. Wohl aber sind es der sozioökonomische Status sowie das Ausbildungsniveau«.
«Die Farbe des Passes ist keine bestimmende Variable zur Messung der Kriminalität.»
Marcelo Aebi
Zudem hat die Schweiz eine der niedrigsten Gefängnisbevölkerungen Europas: 82 Häftlinge auf 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner. «Man sollte nicht mehr von einer Verschlimmerung der Lage reden. Im europäischen und Weltvergleich hat die Schweiz eine sehr niedrige Delinquenzquote. Sicher muss man mehr tun, unter anderem, weil die Cyberdelinquenz im Vormarsch ist.»
Aebi weist darauf hin, dass es Pflicht der Medien sei, die vorhandenen Daten zu analysieren. «Die Information ist vorhanden, und sie in einer Demokratie zu verbergen, ist der schlimmste Fehler. Jedermann kann dann mit den Interpretationen mehr oder weniger einverstanden sein, doch zumindest verfügt er über Elemente, um sich eine eigene Meinung zu bilden.»
Für den schweizerisch-argentinischen Experten ist klar, dass es nicht darum geht, die Situation zu leugnen, sondern sie anzugehen, «um als Gesellschaft Lösungen zu suchen und das Problem nicht denjenigen zu überlassen, die auf Demagogie und Populismus machen».
2010 stimmten 52,9% des Stimmvolks für die Volksinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) zur Ausschaffung krimineller Ausländer.
Im Oktober 2016 trat das entsprechende Gesetz in Kraft, womit die Vorschriften zur gerichtlichen Ausweisung Krimineller verschärft wurden.
Für bestimmte Delikte wie Mord, schwere Körperverletzung oder Betrug sind die Gerichtsbehörden verpflichtet, einen Landesverweis des ausländischen Delinquenten für 5-15 Jahre zu verordnen.
Vor kurzem meinte Justizministerin Karin Keller-Sutter, es sei noch zu früh, um über die Inkraftsetzung dieser Initiative Bilanz zu ziehen.
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